Cupido #1
Wahl gestellt, hätten sie sich wahrscheinlich für das Iglu entschieden. Ihre Mutter rief zwei bis dreimal die Woche an, nur um sich zu versichern, dass Chloe noch nicht beraubt, vergewaltigt, überfallen oder ausgeplündert worden war, denn sie hielt die große Stadt für eine Räuberhöhle mit drei Millionen Dieben, Vergewaltigern, Einbrechern und Plünderern. Und Chloes Vater schrieb natürlich seine Briefe.
Sie warf die restliche Post zu den Lernheften auf dem Nachttisch und griff nach der Brille. Als sie den Brief umdrehte, runzelte sie die Stirn.
Der Umschlag war sorgfältig geöffnet worden. Der Brief fehlte.
6.
Chloe setzte sich im Bett auf, ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Gänsehaut kroch ihr die Arme hinauf, und Marvin fiel ihr ein. Sie starrte nervös an die Decke, als hätten die Wände Augen, und zog das Laken enger um sich.
Marvin war der sonderbare Nachbar, der in der Wohnung genau über ihr wohnte. Der arbeitslose Außenseiter lebte schon ewig hier, lange bevor Chloe vor ein paar Jahren eingezogen war, und Chloe wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Alle wussten das. Jeden Morgen stand er an seinem Wohnzimmerfenster und überwachte den Hof. Aus seinem offenen karierten Bademantel ragte sein großer, nackter, haariger, alternder Bauch hervor und weiß Gott was noch. Aber das verdeckte gnädigerweise die Fensterbank. Dem Himmel sei Dank. Marvins dickes, wulstiges Gesicht war immer von grauen und braunen Stoppeln überzogen, und über den eng zusammenstehenden Augen trug er eine schwarze Plastikbrille. In einer Hand hielt er einen schwarzen Kaffeebecher. Was er in der anderen hatte, wollte Chloe lieber nicht wissen.
Im Waschkeller ging das Gerücht, dass Marvin emotional gestört war und von der Sozialhilfe seiner alten Mutter lebte. Hinter seinem Rücken hatten ihn die Hausbewohner Norman getauft und spekulierten, was mit seiner Mutter geschehen war, die man seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte. Chloe hatte ihn immer für seltsam, aber harmlos gehalten. Ab und zu traf sie ihn im Treppenhaus oder auf dem Flur. Er lächelte nie, sondern machte nur ein grunzendes Geräusch, wenn er an ihr vorbeiging.
Vor zwei Monaten hatte Chloe den dummen Fehler begangen, Marvin bei seiner morgendlichen Wache am Fenster vom Hof aus zuzuwinken. Am gleichen Abend hatte er dann mit ihrer Post vor der Tür auf sie gewartet. Er lächelte sie schief an, entblößte die kur zen gelben Zähne und nuschelte irgendetwas von wegen der Postbote habe die Briefkästen verwechselt. Dann war er wieder die Treppe hoch zu seinem Wohnzimmerausguck geschlurft, von dem aus er sein Reich bewachte.
Seitdem verwechselte der unfähige Postbote die Briefkästen anscheinend mindestens drei Mal pro Woche, und Marvin hatte ein neues Hobby, er goss die Pflanzen in der Eingangshalle, praktischerweise immer dann, wenn Chloe von der Uni kam. Wenn sie morgens zu ihrem Auto lief, spürte sie seinen starr auf sie gehefteten Blick, genau wie abends, wenn sie ihn bei den Briefkästen traf. Dann fing sein Eierkopf zu schwitzen und zu wippen an wie die Wackelfigur auf einem Armaturenbrett, und Chloe spürte, wie sein Blick über ihren Körper wanderte. In letzter Zeit hatte sie den Hinterausgang im Waschkeller benutzt, um das Haus zu betreten und zu verlassen.
Vor zwei Wochen fingen dann die seltsamen Anrufe an, das Telefon klingelte, und sobald sie abnahm, hängte der Anrufer ein. Wenn sie auflegte, hörte sie jedes Mal, wie die Decke über ihr knarrte – Marvin, der in seiner Wohnung auf und abging. Vielleicht war es Marvin gewesen, der heute Abend auf dem Anrufbeantworter war – vielleicht hatte er endlich den Mut gefunden, etwas zu sagen.
Und erst gestern Abend hatte sie einen Moment lang die Wäsche im Trockner gelassen, um aus ihrer Wohnung noch ein paar Münzen zu holen. Im Treppenhaus begegnete sie Marvin, der so tat, als gösse er die Blumen. Als sie die Wäsche dann später in ihrer Wohnung zusammenfaltete, merkte sie, dass zwei Höschen fehlten.
Und jetzt hatte jemand ihre Post geöffnet und den Brief herausgenommen. Bei der Vorstellung, dass Marvin an ihren Höschen herumfingerte und ihre Briefe las, während er im Bett über ihrem Kopf seinen fetten Leib befriedigte, wurde ihr schlecht. Nach dem Examen würde sie sich nach einer neuen Wohnung umsehen müssen – in New York nicht gerade ein Kinderspiel. Jedenfalls konnte sie nicht länger im gleichen Haus wie dieser Spanner leben. Bis heute Abend
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