Cupido #1
richtete ihr noch Grüße von Marvin aus.
Ihre Eltern hatten natürlich versucht, sie zu überreden, wieder nach Kalifornien zu ziehen. Irgendwohin in Kalifornien. Irgendwohin in den Westen. Egal wohin, solange es nicht New York City war. Chloe hatte Michael darauf angesprochen, aber er hatte sofort abgewunken. Seine Karriere, ihr zukünftiger Arbeitgeber, seine Familie, ihr gemeinsames Leben – all das war in New York. Also hatte Chloe ihre Eltern angelogen und ihnen erzählt, dass sie und Michael mit dem Gedanken spielten, aber zuerst müsse sie das Examen in New York machen und den neuen Job anfangen, den sie bereits fest zugesagt habe. Dann hob sie zu einer reichlich hohl klingenden Rede an: Sie würde nicht zulassen, dass dieser Verrückte ihr Leben zerstörte und sie aus der Stadt vertrieb. Bla, bla, bla. Chloe war sich nicht so sicher, dass sie auch meinte, was sie da sagte.
In Wahrheit wusste sie nicht mehr, was sie eigentlich wollte. Was ihr noch vor fünf Tagen wichtig erschienen war, schien jetzt völlig unbedeutend. Das Examen, der Job, die Verlobung. Neidisch sah sie von ihrem Krankenbett aus durch ihren Fernseher zu, wie sich die Welt um sie herum weiterdrehte, als sei nichts geschehen. Wie Menschen sich morgens durch den Berufsverkehr und am Abend wieder nach Hause kämpften, vollauf damit beschäftigt, einfach nur hin und zurückzukommen. Und die Nachrichtensprecher, die emsig über das tägliche Einerlei berichteten, als besäßen diese Ereignisse irgendeinen Nachrichtenwert.
Bitte umfahren Sie die Baustelle auf dem Long Island Expressway großräumig. In Richtung Manhattan weichen Sie auf den Grand Central Parkway aus. Tom Cruise und weitere Stars zeigten sich auf einer Hollywood–Premiere in Los Angeles. Wieder wurde vor Key West ein Schiff mit kubanischen Flüchtlingen entdeckt. Bitte spenden Sie für die hungernden Kinder der Welt. Das Wochenendwetter bringt voraussichtlich anhaltende Gewitter; sorry für die Leichtmatrosen unter euch! Aber nächstes Wochenende habt ihr dann mehr Glück, da sieht es bis jetzt vorwiegend heiter aus.
Chloe hätte am liebsten laut geschrien.
Die Polizisten, die während der ersten zwei Tage ihre Tür bewacht hatten, waren fort, mussten sich wahrscheinlich um ein neueres Opfer kümmern. Detective Sears hatte ihr versichert, die Wache sei abgezogen worden, weil sie sich nicht länger in «akuter Gefahr» befinde. Und obwohl die Polizei «dem Täter aktiv auf der Spur» war und «zahlreiche Hinweise verfolgte», hatte Detective Harrison ihre täglichen Besuche in Chloes Krankenhauszimmer am Montag eingestellt und rief stattdessen an, um zu hören, wie es ihr ging. Chloe ahnte, dass auch die Anrufe in wenigen Tagen auslaufen würden, wenn ihr Fall zur Seite geschoben wurde, um Neuzugängen Platz zu machen.
Ihr ganzes Krankenhauszimmer stand voller duftender Blumensträuße, die wohlmeinende Freunde, Bekannte und Kollegen geschickt hatten, aber Chloe konnte sich immer noch nicht dazu aufraffen, irgendjemand anzurufen. Außer Marie wollte sie keinen ihrer Freunde sehen. Sie wollte nicht, dass sie die Verbände sahen und sich dann die fürchterlichen Dinge vorstellten, die all diese Verletzungen hervorgerufen haben konnten. Sie wollte nicht über jene Nacht sprechen, aber zu trivialem Smalltalk mit den Neugierigen fühlte sie sich auch außerstande. Und sonst, das merkte sie, hatte sie nicht viel zu sagen. Was hätte sie darum gegeben, die Zeit zurückdrehen und einfach wieder Chloe sein zu können, mit ihren Alltagsproblemen und kleinen Lasten; aber sie wusste natürlich, das ging nicht. Dafür hasste sie ihn am meisten. Er hatte ihr Leben gestohlen, und sie wusste nicht, wie sie es sich zurückholen könnte.
Michael verschanzte sich im Büro und kam nur am Montag während der Mittagspause noch einmal für eine Stunde herein. Natürlich, er fand Krankenhäuser grässlich. Und der Anblick ihrer Verbände und Infusionen, der Medikamente und der Ärzte und des Krankengymnasten machte ihn frustriert und hilflos. Ja, der ganze Vorfall, wie er es nannte, machte ihn wütend. Aber irgendwie war es ihr ziemlich egal geworden, wie er sich fühlte. Sie machte es mindestens genauso wütend, dass er sein Leben weiterlebte wie bisher, als sei nichts geschehen – während in Wirklichkeit alles geschehen war und nichts je wieder so sein würde, wie es gewesen war, für sie alle beide.
Heute war Dienstag, und sie durfte nach Hause. Obwohl sie gedacht hatte, dass sie das wollte,
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