Cupido #1
Splitter zerspringen würde.
Nach vierzehn Tagen in New York hatten ihre Eltern schließlich die Koffer gepackt und waren nach Sacramento zurückgeflogen. Chloes gespielte Tapferkeit und die Floskeln, die sie ihren Eltern mit einem undurchdringlichen Lächeln servierte, hatten sie überzeugt. Sie umarmten und küssten einander zum Abschied. Während sie auf den Fahrstuhl warteten, baten ihre Eltern sie noch einmal, mit nach Kalifornien zurückzukehren.
Es geht mir gut. Alles verheilt, und in zwei Wochen mache ich wie vorgesehen das Anwaltsexamen.
Lächelnd winkte sie zum Abschied, als sich die Fahrstuhltür vor dem tränenüberströmten Gesicht ihrer Mutter schloss. Dann drehte Chloe sich um, rannte in ihre Wohnung zurück und verriegelte hastig die Tür. Sie setzte sich auf den Fußboden und konnte drei Stunden lang nicht aufhören zu weinen.
Für das Examen lernte sie nun zu Hause. Das war besser, als die Vorlesungen besuchen und einerseits die Blicke völlig Fremder und andererseits die Fragen wohlmeinender Freunde ertragen zu müssen. Stattdessen hatte ihr der Repetitor Videokassetten gegeben. Die meisten Tage verbrachte sie inmitten von Gesetzestexten auf dem Wohnzimmerteppich und starrte mit dem Block im Schoß auf den Fernsehbildschirm. Sie sah, wie der Mund des Professors sich bewegte, doch die Worte, die sie hörte, ergaben keinen Sinn mehr für sie. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren und wusste, dass sie die Prüfung nicht bestehen würde.
Am Abend vor dem Examen übernachtete Michael bei ihr, und um sieben Uhr morgens fuhr er sie zum Jacob Javitts Center in Manhattan, wo die Prüfung stattfand. Sie trug sich mit den anderen dreitausend Studenten in die Liste ein, setzte sich auf ihren Platz und erhielt um Punkt acht Uhr den dicken Umschlag mit den Unterlagen. Konzentriertes Schweigen senkte sich über den Konferenzraum. Um 8:05 Uhr sah Chloe hinter sich, neben sich, vor sich, auf das Meer von unbekannten Gesichtern. Jedes einzelne machte ihr Angst. Panik überfiel sie. In ihrem Kopf begann es zu hämmern, sie zitterte am ganzen Leib, der kalte Schweiß brach ihr aus. Übelkeit überkam sie. Sie hob die Hand und wurde von der Aufsicht zur Damentoilette begleitet. Dort stolperte sie gerade noch in eine Kabine, bevor sie sich übergab. Später benetzte sie sich Gesicht und Hals mit kaltem Wasser, dann verließ sie die Toiletten und lief geradewegs zur Pforte des Kongresszentrums hinaus. Um 8:26 Uhr nahm sie ein Taxi nach Hause.
Detective Harrison rief nicht mehr an, aber Chloe erkundigte sich jeden einzelnen Tag telefonisch bei Special Victims nach dem Stand der Ermittlungen. Die Antwort war immer die gleiche.
«Sie können sicher sein, dass wir jede Spur aktiv verfolgen, Chloe. Wir hoffen, dass wir den Täter bald haben. Wir wissen Ihre nachhaltige Mitarbeit zu schätzen.»
Chloe hätte gewettet, dass die Kommissarin ihre tägliche Antwort aus einer Broschüre vorlas: «Behördliche Auskunft zur Beruhigung von nervenden Opfern ungelöster Fälle». Tage und Wochen vergingen, und noch immer fehlte von einem Täter jede Spur. Chloe wusste, dass ihr Fall langsam in Richtung Archiv wanderte. Ohne Identifizierung, ohne Fingerabdrücke oder andere Indizien würde er höchstwahrscheinlich ungelöst bleiben, wenn es nicht noch ein Geständnis oder einen ähnlich unwahrscheinlichen Glücksfall gäbe. Trotzdem rief sie Detective Harrison täglich an, und sei es nur, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen und zu zeigen, dass es sie immer noch gab.
Nach dem Fiasko mit dem Anwaltsexamen war die Beziehung mit Michael endgültig in die Brüche gegangen. Er war empört, weil sie hinausgelaufen war, ohne es auch nur versucht zu haben. Seit dem Vorfall, wie er es noch immer nannte, hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen, und inzwischen hatte selbst jedes Händchenhalten einen künstlichen Beigeschmack. Statt jeden Abend kam er jetzt nur noch am Wochenende zu ihr. Und er wurde im mer verständnisloser, dass sie die Wohnung nicht verlassen, nicht einmal mit ihm Essen gehen wollte. Zwischen ihnen war eine unausgesprochene eisige Distanz, die täglich wuchs, und keiner von beiden wusste, wie sie zueinander zurückfinden könnten. Chloe wusste nicht einmal mehr, ob sie das überhaupt wollte. Sie hatte das Gefühl, dass Michael heimlich ihr die Schuld gab für das, was geschehen war. Sie erkannte es in seinen Augen, wenn er sie ansah – und vor allem, wenn er sie nicht ansehen konnte. Und das konnte sie
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