Cupido #1
zitterte sie am ganzen Körper, seit Dr. Broder ihr die Neuigkeit überbracht hatte. Michael hätte sie abholen sollen, doch dann saß er den ganzen Nachmittag in einer schwierigen Konferenz fest. Stattdessen wurde sie jetzt von ihrer Mom und Marie im Rollstuhl zum Ausgang gebracht, wo ihr Dad im Mietwagen wartete. Sie konnte zwar schon wieder laufen, doch die Krankenhausordnung schrieb den Rollstuhl vor, bis sie im Auto saß.
Die Fahrstuhltür öffnete sich im Erdgeschoss, und Marie schob Chloe in die geschäftige Eingangshalle. Überall waren Menschen. Alte Leute saßen auf Bänken in der Ecke, Polizisten lehnten an der Informationstheke. Entnervte Eltern hielten weinende Kinder im Arm, und Schwestern und Krankenhauspersonal schwirrten zwischen den Gängen und den Fahrstühlen hin und her.
Schnell suchte Chloe die Halle nach irgendeinem Zeichen von ihm ab. Manche Leute musterten sie mit trägem Interesse in ihrem Rollstuhl. Sie achtete genau auf ihre Augen, ihre Bewegungen. Manche waren in Gespräche vertieft, andere hatten die Köpfe in Zeitungen vergraben, und wieder andere starrten einfach nur vor sich hin. Nervös suchte Chloe die Menge ab. Ihr Herz raste, und sie spürte das Adrenalin, das ihr durch die Adern schoss. Doch die traurige und bittere Wahrheit war, dass es jeder gewesen sein konnte, den sie hier vor sich sah. Ohne die Maske würde sie ihn nicht wiedererkennen.
Der kleine Schritt vom Rollstuhl ins Auto jagte sengende Schmerzen durch ihren Unterleib. Marie und ihre Mom halfen ihr, als sie mit der Tüte der rezeptpflichtigen Medikamente vorsichtig auf den Rücksitz kletterte. Durch die regennasse Scheibe sah sie auf den großen Parkplatz hinaus. Es ging über den geschäftigen Northern Boulevard, und dann würden sie sich auf den Long Island Expressway einfädeln, der immer stark befahren war. So viele Gesichter, so viele Fremde. Er konnte überall sein. Er konnte jeder sein.
«Sitzt du gut da hinten, Honey?» Sie antwortete nicht gleich. «Beany?», fragte ihr Dad sanft.
«Ja, Dad, kann losgehen.» Zögernd fügte sie dann leise hinzu: «Daddy, bitte nenne mich nie wieder so.»
Er schien traurig. Dann nickte er nüchtern und sah zu, wie seine Tochter das erschöpfte Gesicht wieder dem Fenster zuwandte. Er fuhr los und schlängelte sich von der Krankenhausauffahrt über den Parkplatz zur Atlantic Avenue. Das Jamaica Hospital verblasste im strömenden Regen. Und während der ganzen Reise zu ihrem neuen Apartment in Lake Success, vorbei an unzähligen Autos, an unzähligen Fremden, starrte Chloe aus dem Fenster.
14.
Jeden Morgen sah sich Chloe im Spiegel an und sagte: Heute musst du noch durchstehen, ab morgen wird es sicher besser. Doch es schien immer schlimmer zu werden. Zwar heilten die Wunden, und die gezackten Narben begannen abzuschwellen, aber die Angst in ihrem Innern wucherte wie ein unheilbarer Krebs. In den Nächten quälte Schlaflosigkeit sie, an den Tagen eine grenzenlose erschöpfende Müdigkeit.
Ihr zukünftiger Boss bei Fitz & Martinelli, wo sie nach dem Examen ihre brillante Karriere als Anwältin für Arzthaftungsrecht beginnen sollte, rief besorgt an, um zu fragen, wie es ihr ginge und ob sie wie vorgesehen im September anfangen könnte oder mehr Zeit für die Rekonvaleszenz benötigte. Es geht mir gut, antwortete sie. Alles verheilt, und in drei Wochen mache ich wie geplant das Examen. Vielen Dank für die Fürsorge.
Und sie glaubte sogar, was sie da sagte. Zu jedem. Jeden Tag. Aber dann überfiel sie plötzlich aus heiterem Himmel ein unermessliches Grauen, das wie mit dürren Klauen nach ihr griff – so körperlich, dass sie es fast riechen konnte. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, das Atmen wurde schwer und schmerzhaft, und alles begann sich zu drehen. In der U–Bahn schmeckte sie auf einmal den Knebel, spürte die kalte Messerspitze. Im Fahrstuhl hörte sie seine Stimme, roch den widerlich süßen Geruch der Kokoskerzen. Im Rückspiegel sah sie das hässliche Clownsgrinsen und fühlte die Latexfinger kalt auf ihrem Hals. Dann war es, als würde die Zeit zurückgedreht, und sie befand sich plötzlich wieder in jener Nacht. Sie versuchte mit aller Kraft, ihren Alltag zu bewältigen und so etwas wie ein normales Leben zu führen. Aber aus Tagen wurden Wochen, und sie spürte, wie sich die mikroskopisch kleinen Risse in ihrer Fassade vertieften und ausbreiteten. Irgendwann wurde ihr klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie eines Tages in Millionen
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