Curia
manche geschlossen, die von Ficino so hymnisch gepriesene »himmlische Liebe« habe auch Pico verführt.
Zeitgenössische Chroniken bezeugten indes, dass Pico ein Frauenheld war und dass sein Leben aus fortwährenden Liebesverwicklungen mit nächtlichen Fluchten und Entführungen junger Mädchen bestand. Überdies war er ein reicher Adeliger. Warum hätte er sich in einem Kloster einschließen lassen sollen? Ein Freund der Kirche war er ganz gewiss nicht.
Es sei denn … Im Mittelalter zogen die Menschen sich auch aus einem anderen Grund in Klöster zurück: um sich vor einer Gefahr zu schützen. Konnte das nicht auch auf Pico zutreffen? Sie schlug ein weiteres Buch auf.
Lorenzo de’ Medici, Picos Gönner und Beschützer, war 1492 gestorben. Nachfolger wurde sein Sohn Piero, ein belangloser Mensch. Mit Piero hatte der Niedergang der Medici begonnen, und Pico hatte damals noch immer viele Feinde innerhalb der Kirche. Raisa blickte auf. Warum flüchtete er sich dann ausgerechnet in ein Kloster? Bedeutete das nicht, sich dem Feind in die Arme zu werfen? Moment … San Marco war nicht irgendein Kloster.
Das Kloster San Marco war eine Hochburg der Medici gewesen. Cosimo zog sich zu spirituellen Exerzitien dorthin zurück, und er und Lorenzo hatten in dem Kloster eine Bibliothek gegründet, der sie sehr wertvolle Kodizes schenkten. Zumindest bis zum Tod Lorenzos hatte dieses Kloster den Medici viel nähergestanden als der Kirche. Picos Wahl war also kein Zufall.
Das Kloster San Marco … Der Name klang vertraut. Sie überflog Vankos Notizen. Kloster San Marco, Florenz (Pater Montague). Archive? Sie klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Pater Ascanio hatte Théo gesagt, dass Pater Montague ein vertrauenswürdiger Mann sei.
Sie ging zum Fenster. Die Morgenröte begann den Himmel zu erhellen und färbte das Wasser der Seine silbern. Das Kloster San Marco besaß eine Bibliothek mit wertvollen Handschriftensammlungen. War es nicht denkbar, dass die Archive der Bibliothek noch Geheimnisse bargen? Über Picos Tod? Wer konnte das besser wissen als Pater Montague, der Prior?
Raisa schaltete den Computer ein und buchte bei Air France einen Flug, der am nächsten Tag um 07:20 Uhr von Charles de Gaulle abflog und um 09:15 Uhr in Florenz war.
Die Jaquet-Uhr schlug achtmal. Mönche waren Frühaufsteher. Warum sollte sie es nicht probieren? Sie wählte eine Nummer.
»Pater, ich bin die Cousine von Kardinal Vanko St. Pierre. Vanko hatte mir gesagt, dass ich mich an Sie wenden kann, wenn ich Hilfe brauche.«
»Vanko und ich waren gut befreundet«, sagte Pater Montague am anderen Ende. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte Sie gerne treffen. Es geht um den Tod meines Cousins, aber darüber möchte ich am Telefon lieber nicht sprechen.«
Eine Pause entstand. »Wann wollen Sie kommen?«
»Wäre Ihnen morgen Vormittag gegen elf Uhr recht?«
»Ich erwarte Sie. Wissen Sie, wo wir sind?«
Das Guckloch schloss sich wieder, und die Tür ging auf. Der Pater Pförtner in der weißen Kutte der Dominikaner blickte Raisa stirnrunzelnd an. Dann führte er sie durch den Portikus des stillen Kreuzgangs. Drei ins Gebet vertiefte Mönche spazierten durch den Garten, die Hände in den Ärmeln ihrer Kutten verborgen. Der Mönch ließ sie in einen großen Raum mit gewölbter Decke eintreten, dessen Wände Fresken von Beato Angelico schmückten.
»Der Pater Prior wird in Kürze hier sein.« Der Mönch ging hinaus.
Ein hochgewachsener Mönch mit einem Kranz schlohweißer Haare, einem Lächeln im Blick und einem Spitzbärtchen wie aus einem Roman von Dumas trat ein. Hinter runden, silbern eingefassten Brillengläsern musterte sie ein neugieriges Augenpaar. Pater Montague flößte ihr sofort Vertrauen ein. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, setzten sie sich auf eine Sitzbank aus dem 16. Jahrhundert mit geschnitzten Verzierungen in der Rückenlehne.
Auf das Nötigste beschränkt, erzählte Raisa von den Pergamenten und den Nachforschungen, die sie und Théo angestellt hatten.
»Bevor Pater Ascanio starb«, sagte sie, »hat er Théo erzählt, dass Vanko und er Ihnen den Fund der Handschriften von Ficino zu verdanken hatten. Wie kam das?«
»Vor zehn Jahren übergab ich Vankos Vorgänger die Handschriften, doch der schwieg die Sache tot. Als Vanko mir gegenüber eine Recherche über das Buch Exodus andeutete, erzählte ich ihm von den Papieren. Er wusste, wo er sie finden würde.«
»Sie und Vanko müssen einander
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