Curia
Der Löwe blieb vor einer Tür mit dem abgeblätterten Bild Atons stehen und öffnete sie mit einem Prankenhieb.
Begleitet von dem Knallen, mit dem lose in den Angeln hängende Fensterläden gegen die Mauern schlugen, schritt er durch die leeren Räume und machte halt vor einem leeren Bett, an dessen Säulen keine Vorhänge mehr hingen. Er sprang auf die Matratze aus geflochtenen Seilen und legte sich vor das Kopfende aus Ebenholz, dessen Polsterung zerrissen war. Nachdem er daran gerochen hatte, stieß er einen klagenden Schrei aus. Der Schwanz schlug auf das Bett.
Flügelschwirren erfüllte den Raum. Ein aschgrauer Reiher setzte sich auf das Fensterbrett. Scharf hob sich seine Silhouette gegen die feurige Sonnenscheibe ab.
Als die schwarze Limousine aus der überdachten Parkbucht des Terminals 2 F herauskam, wurde sie von einer Regenbö erfasst. Sie fuhr die Rampe hinunter, die Scheinwerfer beleuchteten das Hinweisschild auf die A 1 Richtung Paris.
Théo nahm das Telefon aus der Armlehne seines Sitzes und wählte Raisas Handynummer. Es gab eine Verbindung, aber die Mailbox schaltete sich ein.
»Raisa, hier ist Théo. Es ist alles vorbei. Du kannst nach Paris zurückkommen, es besteht keine Gefahr mehr. Ruf mich im Louvre oder zu Hause an. Ruf mich bitte an, jederzeit. Ruf mich an.«
Der Regen rann an den Scheiben hinunter. Warum ging sie nicht an ihr Handy? Er versuchte, sich an die Nummern ihrer Praxis und des Krankenhauses zu erinnern. Dann rief er die Auskunft an und fragte nach den Nummern, die er auf einem Notizblock mit der Aufschrift »Kassamatis Enterprises« notierte.
Die Leitung der Salpêtrière war immer besetzt. Er rief in der Praxis an, Arlène antwortete. Nein, sie habe seit acht Tagen nichts mehr von Raisa gehört, seit sie Blonville-sur-Mer verlassen habe. Auch sie sei sehr besorgt. Raisas Handy sei immer ausgeschaltet. Théo bat Arlène, Raisa auszurichten, sie könne unbesorgt nach Paris zurückkehren und solle ihn bitte im Louvre oder zu Hause anrufen.
Welcher Tag war heute? Er drückte auf den Knopf, der die Trennscheibe herunterließ, und fragte den Fahrer. Mittwoch, der 3. Oktober? War das möglich? Wie viele Tage waren seit der Schießerei vergangen? Elf. Nur elf Tage. Sollte er in sein Büro zurückkehren? Was seine Arbeit im Louvre anbelangte, so hatte er einen Monat lang Urlaub, und Clea machte Ferien auf Kos. Er beugte sich vor und bat den Fahrer, ihn nach Hause zu bringen.
Er zog Echnatons Kette hervor und hielt sie an die Lampe der eingebauten Cocktailbar. Die grüne Ader in dem Türkis spiegelte sich funkelnd in den Kristallflaschen. Er strich mit dem Finger über das kleine goldene Amulett. Der Nefer versprach dem Verstorbenen ein glückliches Leben im Jenseits. Théos Hand schloss sich um die Statuette. Warum war er traurig? Wegen Vanko? Wegen Echnaton? Oder ging es um ihn selbst? Weil er noch lebte? Seine Kehle war wie zugeschnürt, er sah den Schrei von Munch vor sich. Einer der schrecklichsten Sätze, die es gab, war: »Wenn ich nur gekonnt hätte …« Aber er war auch der unehrlichste, er diente immer als Alibi. Wer hinderte ihn, wenn er sein Leben wirklich neu beginnen wollte? Die Worte der Herzogin übertönten die leise Musik im Auto: »Der Narr kann den Verlockungen des Irrationalen nicht widerstehen.«
Zu Hause knipste er eilig alle Lampen an und schloss die Tür. Langsam ging er durchs Wohnzimmer, ließ die Taschen fallen, öffnete die Balkontür und schob den Rollladen hoch. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolken rissen auf, ein Streifen Blau schimmerte hindurch. Ein Sonnenstrahl streifte die Kuppel von Sacré-Cœur. Knarrend kletterten die Wagen der Zahnradbahn den Berg hinauf, aus der Rue des Trois Frères kam das Brummen eines Motorrads. Er dachte an die Stille und Reglosigkeit der Wüste, an ihren flachen Horizont.
Den Blick aufs Telefon gerichtet, setzte er sich vor den Kamin. Sollte er Dominici anrufen? Oder den Kommissar am Quai des Orfèvres, der ihn nach der Schießerei verhört hatte? Es hätte nichts genützt. Kassamatis hatte recht. Er hatte keinen einzigen Beweis, und kein Gericht der Welt würde einen Fitzwilliam verurteilen. Wozu dann die ganze Mühe, merde ? Fitzwilliam und La Fontaine waren unangreifbar, das Grab war gesprengt, und er trug die Schuld am Tod von Pater Ascanio, Spyro, dem Wachmann des Louvre und Mayo. Und obendrein war Raisa verschwunden.
Er öffnete den Koffer der Stradivari, zog sie heraus und strich über die Saiten.
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