Curia
Théo.
»Abgesehen von den zahlreichen Indizien, haben mich vor allem zwei Fakten überzeugt.«
Erstens verurteilte die Bibel den Abfall vom Glauben aller Könige Israels und eines Großteils der Könige von Juda, die sie in den zwei Büchern der Könige aufzählt. Doch als die Rede auf Josia kommt, erklärt das zweite Buch der Könige ihn zum gerechtesten König der ganzen Geschichte Judas, vergleicht ihn mit Moses und David und fügt hinzu: »Auch nach ihm war keiner wie er.«
Zweitens entdeckte Hilkija im Jahr 622 v. Chr. während der Ausbesserungsarbeiten am Tempel von Jerusalem ein geheimnisvolles »Gesetzbuch« – Hofmann zitierte Vers 22,8–10 aus dem zweiten Buch der Könige –, ein Buch, in dem Jahwe dem »auserwählten Volk« seine Gesetze diktiert hatte.
»Die ›Entdeckung‹ dieses Buches ausgerechnet im Tempel und in diesem besonderen Moment der Geschichte Judas zeigt ein, gelinde gesagt, verdächtig gutes Timing, das sich ganz offensichtlich einer sorgfältigen Regie verdankt. Die Regisseure? Josia und Hilkija, wer sonst. Die Verfasser des Buches? Hilkijas Priester, daran besteht kein Zweifel.«
»Was enthielt dieses Gesetzbuch?«
»Laut Finkelstein und Silberman war es nur das Deuteronomium, während andere meinen, dass es mehrere Bücher der Thora umfasste. Jedenfalls fühlte sich Josia dank dieses Buches und des Imprimatur von Jahwe ermächtigt, seine Reform durchzusetzen.«
Wie im zweiten Buch der Könige beschrieben, tat er das im Tempel vor dem Volk. Er zeigte den Menschen das Gesetzbuch, las es ihnen vor und gelobte dann, dass Juda von diesem Tag an nur noch Jahwe und diesem Buch gehorchen werde. Mit Unterstützung der Priester, Adeligen und Kaufleute – allen, die sich einen Vorteil aus seinen Expansionsbestrebungen erhofften – erklärte Josia darauf den Assyrern den Krieg.
»Aber der König musste sehr bald entdecken, dass er einen Rivalen hatte: den Pharao Psammetich I. Denn auch der Pharao hatte einen Traum, er wollte Ägypten zur einstigen Glanzzeit des Neuen Reiches zurückführen.«
Das bedeutete, die verlorenen Provinzen zurückzuerobern, darunter auch das Land Kanaan. Der Pharao konzentrierte sich dabei auf das reiche Israel. Josia starb 609 v. Chr. in der Schlacht bei Megiddo, und nach seinem Tod betete man in Juda wieder das alte heidnische Pantheon an. Danach eroberten die Babylonier das Land Kanaan, und 587 v. Chr. zerstörten sie Jerusalem und seinen Tempel. Die Elite des judäischen Adels wurde nach Babylonien deportiert, mehrere tausend Menschen, unter denen sich mit Sicherheit die Verfasser der ersten Bücher der Bibel befanden.
»Was hätten Sie gemacht, wenn Sie einer dieser nach Babylonien verschleppten Judäer gewesen wären?«
»Ich hätte Jahwe am Kragen gepackt und ihn aus einem Fenster des Tempels geworfen.«
»Dasselbe hätte ich auch getan, und dann hätte ich wieder El und seine Genossen angebetet. Aber sie nicht.«
Die Exilierten schrieben weiter an der Bibel, wobei sie sogar bereits geschriebene Bücher veränderten – die Revisionen waren offensichtlich, vor allem im zweiten Buch der Könige –, um zu zeigen, dass der Fall Judas und die Deportation die gerechte Strafe Jahwes für die Untreue Judas waren, dessen Bevölkerung nicht aufgehört hatte, die alten Götter anzubeten.
»Sie hatten alles verloren: ihre Freunde, Güter, ihr Land. Vor der Zerstörung Jerusalems und dem Exil waren die Aufwertung Jahwes und der Fund der Bibel wohl nur ein politischer Schachzug. Nach der Deportation nach Babylonien galt das nicht mehr. Die Bibel war alles, was ihnen blieb, die einzige Verbindung mit ihren Wurzeln.«
»Wollen Sie sagen, dass das jüdische Volk und Jahwe im Exil in Babylonien entstanden?«
»Überrascht Sie das?«
»Nein, wenn ich es jetzt recht bedenke, überhaupt nicht.«
Théo musste an die Theorien von Halbwachs denken. Alles passte zusammen. Die gesellschaftlichen Kräfte eines bestimmten historischen Moments und ein fünfzigjähriges Exil in Babylonien hatten aus einer zweckdienlichen Religion einen inbrünstigen Glauben gemacht. Getrieben vom Traum eines »Gelobten Landes«, waren die in Babylonien geborenen Judäer, die nachfolgende Generation, mehr denn je davon überzeugt, dass sie das auserwählte Volk eines allmächtigen Gottes seien, der sie vor allen anderen Völkern der Erde erwählt hatte.
»Fünfzig Jahre nach der Zerstörung des Tempels kehrten die Familien der Exilierten nach Jerusalem zurück«, fuhr Hofmann fort,
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