Curia
Unterbewusstsein verbannen, funktioniert auch das kollektive Gedächtnis. Eine Gruppe Individuen, ja sogar ein ganzes Volk »erinnert sich an« vergangene Ereignisse nicht so, wie sie sich wirklich abgespielt haben, sondern rekonstruiert sie, indem sie Erinnerungen unter den Bedingungen ihrer Gegenwart interpretiert, manches hinzufügt, anderes weglässt. Ergebnis: Geschichte und kollektives Gedächtnis hatten nichts miteinander zu tun. Lügen, nichts als Lügen . Durchaus nicht, sagte Halbwachs. Je weiter die Ereignisse zurücklagen, desto eher handelte jede Generation in gutem Glauben, wenn sie die Erinnerungen vorhergehender Generationen umzuformen versuchte.
So wurde das kollektive Gedächtnis zum Mythos.
Er blätterte in der Bibel, und das Adagio des Violinkonzerts d-Moll von Sibelius begleitete seine Gedanken. Was hatte dieses Buch für Halbwachs bedeutet? Nichts anderes als das kollektive Gedächtnis Israels, die Autobiografie eines Volkes, und im Laufe von Jahrhunderten immer wieder umgeschrieben. Er schüttelte den Kopf. Wie fand man das Körnchen Wahrheit, vorausgesetzt, es war da? Man musste nur die Antwort auf wenige, aber entscheidende Fragen finden. Wer hatte die Bibel geschrieben, wann und warum?
Er trank einen Schluck Cognac. Vor ihm erschienen zwei schwarze Augen, aus denen der Scharfsinn funkelte. Hofmann . Er griff zum Telefon.
Auf dem Blau des Genfer Sees tanzten die weißen Punkte der Segelboote. Das Taxi fuhr durch die grünen Alleen des Viertels Dorigny, in dem der Campus der Universität Lausanne lag, und hielt vor dem Glas- und Zementbau des Anthropole, der Fakultät für Theologie. Théo stieg aus und verschwand in dem Gebäude. Im zweiten Stock klopfte er an eine Tür mit dem Schild: »Prof. Jean-Louis Hofmann, Altes Testament«.
Als Théo seinen Bericht beendet hatte, füllte Professor Hofmann – schütteres Haar, knochige Züge und ein Lächeln in den Augen – eine gebogene Meerschaumpfeife, stopfte den Tabak fest und zündete ihn mit einem langen Streichholz an. Ein süßer Duft verbreitete sich im Raum.
»Sehen Sie all diese Bücher?« Hofmann umfasste mit einer ausladenden Geste die dicht bestückten Regale. »Alle nichts wert, alle bis auf eines.« Er drehte sich um und nahm ein Buch von einer Anrichte. »Dieses, dies allein, ist die Summe von dreißig Jahren Arbeit.« Er zeigte ihm den Umschlag: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel , von Finkelstein und Silberman. »Kennen Sie es?«
»Ich habe es gelesen, als es herauskam.«
»Alles darin geht schlüssig auf. Alles – die Anachronismen, die Philologie, Geschichte und Archäologie – weist auf das siebte Jahrhundert vor Christus. Die beiden Autoren haben recht: Am Ursprung der Bibel steht König Josia.«
Josia hatte ausgezeichnete Gründe, weshalb er die Bibel brauchte. 640 v. Chr. wurde er König von Juda. Zu der Zeit war Juda ein armes, dünn besiedeltes Reich, dessen bäuerliche Bevölkerung eine unbekannte Anzahl heidnischer Gottheiten anbetete, die alle mit der Natur verbunden waren. Jahwe war einer dieser vielen Götter. Das mächtigere, wohlhabendere Reich Israel im Norden war schon vor achtzig Jahren unter die Herrschaft der Assyrer gefallen. Josia hegte einen großen Traum: Er wollte die Eroberer vertreiben und Juda mit Israel zu einem starken Reich vereinigen, das es mit den assyrischen und ägyptischen Imperien aufnehmen konnte.
»Josia hatte einen großartigen Einfall.« Der Professor reichte Théo einen Hennessy und goss sich einen Tequila ein. »Vielleicht hatte ihn auch Hilkija, der Hohepriester des Tempels, wenn man bedenkt, dass der König noch ein kleiner Junge war, als er den Thron bestieg.«
Die beiden erkannten, dass sie eine epische Sage mit drei Elementen brauchten, wenn sie die Bevölkerung von Juda für ihren Plan gewinnen wollten: ein Volk auf der Suche nach einem »Gelobten Land«, einen Führer mit dem Charisma eines Propheten und einen mächtigen Gott, mit dem vor Urzeiten ein Bund geschlossen worden war.
Die Wahl fiel auf Jahwe. Jahwe, ein drittklassiger Gott, stieg zum Gipfel des Pantheons im Tempel von Jerusalem auf, indem er den Platz von El einnahm, des Stammvaters aller Götter. Josia erklärte ihn zum einzigen Gott und befahl, alle Kultgegenstände der anderen Götter: Baal, Asherah – die Gattin Els –, Astarte, Resheph, Shalim und alle mit den Sternen verbundenen Götter aus dem Tempel zu werfen.
»Gibt es dafür Beweise?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher