Curia
konzentrierte sich auf ihren Atem.
Théo klingelte, die Tür öffnete sich. »Was ist passiert?« Er streckte die Hand aus, aber Raisa wich einen Schritt zurück.
»Komm rein.«
Sie kauerte sich in eine Ecke des Sofas, ein mit Eiswürfeln gefülltes Taschentuch gegen den Wangenknochen drückend. Das Blau ihrer Bluse ließ ihr Gesicht noch blasser erscheinen. In unpersönlichem Ton, als würde sie über etwas sprechen, was jemand anderem zugestoßen war, erzählte sie von dem Überfall.
»Tut dir die Wange weh?«
Raisa zuckte die Achseln. »Nur ein Kratzer.«
»Das Ganze wirkt völlig sinnlos. Was wollten die denn? Du sagst, sie haben dir einen Umschlag gegeben. Was war darin?«
Raisa zeigte auf den Tisch. »Das da.«
Théo nahm die Karte. Das Bild zeigte ein Skelett mit einer Sichel in der Hand. Eine Tarotkarte? Am oberen Rand stand die römische Ziffer XIII, am unteren die Bildunterschrift La Mort . Doch was seine Aufmerksamkeit erregte, war der Satz, den jemand in Schönschrift voller Schnörkel quer über die Karte geschrieben hatte:
Pico della Mirandola starb mit einunddreißig, er wurde vergiftet. Schade, wenn man so jung stirbt, findest du nicht auch?
»Weiß außer Constance noch jemand von deinen Nachforschungen?«
»Niemand. Nur Constance, und ihr kann ich trauen.«
»Dann kann diese Karte nur von der BPH kommen.«
»Das habe ich auch sofort gedacht, aber ich verstehe trotzdem nicht, wie das möglich ist.«
»Ihr werdet doch wohl einen Ausweis vorgezeigt haben.«
»Nein, das mussten wir nicht. Wir haben kein Buch ausgeliehen, und die Benutzung der Computer war frei.«
»Dann kannte also niemand eure Namen, als ihr die Bibliothek verlassen habt?«
»Niemand.«
»Trotzdem deutet alles auf sie hin. Du hast mir selbst erzählt, dass der Archivar dir nicht gefallen hat.«
»Ich weiß, ich weiß …«
»Obendrein scheint eine solche Botschaft von einer esoterischen Sekte zu stammen. Das ist doch eine Tarotkarte, oder?«
»Ja, es ist das Große Arkanum 13, der Tod.«
»Was bedeutet sie?«
»Das ist es ja gerade, was mir zu denken gibt. Die Bedeutung ist nicht der physische Tod.«
Die zweiundzwanzig Großen Arkanen seien Jung’sche Archetypen, so Raisa, Symbole für universale Begriffe, die jeder Mensch in seinen Genen habe. Sie stellten einen Initiationsweg dar, der vom Stadium des gewöhnlichen Menschen, der Karte mit der Null, die einen Narren zeigte, bis zur metaphysischen Erkenntnis des Kosmos und des eigenen Selbst führe. Sie werde auf der Karte Nummer 21 durch ein Bild der Welt symbolisiert. Das dreizehnte Arkanum bedeute eine wichtige innere Veränderung: das Ende von etwas und die Geburt zu einem neuen Leben, einem höheren Entwicklungsgrad des Selbstbewusstseins.
»Bitte lass doch die esoterischen Erklärungen.« Théo war versucht, sie zu streicheln, aber er hielt sich zurück. »Das Skelett und die Botschaft sind eindeutig genug, meinst du nicht?«
»Nein, ich glaube, dass hinter dieser Karte etwas Wichtiges steckt.«
Die Großen Arkanen entsprachen den zweiundzwanzig heiligen Pfaden des Lebensbaums der Kabbala, erklärte sie. Zu jedem Arkanum und jedem Pfad gehöre einer der zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets.
»Die Kabbalisten waren überzeugt, dass die Großen Arkanen mit Moses nach Israel gekommen sind und dass die Israeliten sie bei ihrer Flucht aus Ägypten mitgenommen haben.«
Théo schüttelte den Kopf. »Gibt es dafür Beweise?«
»Beweise nicht. Aber in der Tradition des esoterischen Denkens gehen die Bilder der Großen Arkanen auf die Ikonografie der Mysterienschulen in den ägyptischen Tempeln zurück.«
»Das sind doch bloß Legenden. Ich mache seit zwanzig Jahren Grabungen in Ägypten und habe noch auf keiner Tempelwand etwas in der Art gesehen.«
»Was heißt das schon? Die Initiierten proklamierten ihre Geheimnisse natürlich nicht an den Tempelmauern. Warum haben die Typen in der Garage ihre Botschaft wohl ausgerechnet auf eine Tarotkarte geschrieben?«
Théo sah sich erneut die Karte an. »Nehmen wir einmal an, es stimmt, was du sagst. Ja, und? Verrät dir das, wer die Leute in der Garage und ihre Auftraggeber waren?«
»Nein, doch der Herr, der mir so eine Botschaft geschickt hat, hat sich damit selbst verraten, weil er mir zu verstehen gibt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.«
»Pico della Mirandola lebte achtundzwanzig Jahrhunderte nach Echnaton. Lass uns abwarten, bis wir entdeckt haben, was unter der Intarsie steckt,
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