Cut
einen Anflug von Trotz nicht verkneifen. Im nächsten Moment tut es dir Leid. »Du, Hinnarck, ich muss schon wieder los. Das Kino macht gleich auf.« Du hast ihm noch nichts von der Schließung erzählt und lässt es vorerst dabei. So was kann man nicht mal eben zwischen Tür und Angel erledigen.
Hinnarck steht wie eine Eins und versperrt dir in der engen Twiete den Fluchtweg. »Deern, du solltest dich öfter mal zu Hause blicken lassen, wo du gebraucht wirst. Oder bist du dir zu fein für deine Eltern?«
Du weichst seinem Blick aus. In der Dämmerung scheinen die Backsteinmauern noch enger zusammenzurücken. Frau Neumann von gegenüber hängt wieder hinter der Gardine, aus dem Augenwinkel hast du eine leichte Bewegung wahrgenommen. Hinnarck kann einfach nicht verstehen, warum du nach Hamburg gehen musstest. Tausende tun das. Sie gehen nach Hamburg oder Berlin oder Los Angeles oder Neuseeland. Aber nicht mit Hinnarck als Vater. Wenn es nach ihm ginge, hättet ihr den Dachboden ausgebaut und da würdest du jetzt hocken mit Mann und Kindern. Und zwischendurch könntest du Emma mit ihren Tabletten füttern wie einen kaputten alten Spielautomaten, der keine Gewinne mehr ausschüttet.
Du versuchst es mit der Wahrheit. »Natürlich nicht, Papa. Es ist nur – du weißt ja, wie ich über Emma und ihre ganzen Medikamente denke. Sie sitzt doch nur noch da wie ein rauchender Fabrikschlot. Es ist ihr völlig egal, ob ich da bin oder nicht.«
»Aber mir ist es nicht egal.«
Hat er das wirklich gesagt oder hast du es dir eingebildet? Sein Blick wandert nach oben zum Küchenfenster, und deiner folgt ihm. Emmas blasses Gesicht starrt in eure Richtung. Du drehst den Kopf schnell wieder weg.
»Der Arzt sagt, so bringt sie sich wenigstens nicht um.« Für Hinnarck sind Männer in weißen Kitteln noch unanfechtbare Autoritäten.
»Wie denn auch, sie ist ja schon halb tot!«, bricht es aus dir heraus.
Hinnarck zieht die Schultern hoch. »Tja dann, ich muss weiter, Deern. Die Läden machen gleich zu.« Er wendet sich ab und geht langsam weg.
Du hast ihn wieder mal enttäuscht.
16 Emmas Welt
Da ist ja Madita! Kleines Mädchen. Großes Mädchen. Zigarette, die Zigarette darf nicht aus dem Aschenbecher fallen. Emma hat aber keine Angst vor dem Feuer. Nur Hinnarck. Madita! Jetzt ist sie wieder weg. Wo ist sie nur hingelaufen?
Der Vorhang kommt. Immerzu geht der Vorhang runter. Großer grauer Vorhang. Bitte nicht.
Kalt. Emma ist so kalt. Nicht so laut! Das Schiff soll leiser tuten. Tut ja weh in den Ohren. Da unten, ganz weit unten steht sie am Hafen und winkt. Klitzekleine Emma. Kann ihrem Schicksal nicht entkommen.
Welche Farbe hat das Schicksal? Weiß? Alles ist weiß. Die Decke ist weiß. Unter einer weißen Decke liegen und an die weiße Decke gucken. Stocksteife Emma.
Da kommt sie, die dicke blonde Frau mit der weißen Haube. Sie hat ein braunes Bündel im Arm.
»Da haben Sie Ihr kleines Schoko-Bonbon!«
Das Weiß tut weh in Emmas Augen. Müde Emma. Kann jetzt nicht. Muss sich zur Seite drehen. Die Augen zu, ganz fest. Da ist er wieder. Gott sei Dank. Er winkt noch.
»Komm zurück!« Das ist ihre eigene Stimme, schrill. Aua. Er wird immer kleiner. Das Meer glitzert. Weiß. Sonne. Wenn man in die Sonne guckt, muss man die Augen zumachen. Es ist Sommer. Endlich Sommer.
Glückliche Sommer-Emma, braucht die Wärme. Der See. Auf dem See schwimmt ein rotes Gummiboot. Darin sitzt das kleine Kind.
»Mama, guck mal, guckdochmal!« Um Gottes willen! Das Boot! Es kippt um!
»Piep!« Endlich dunkel, es ist fast dunkel.
»A1 Hamburg-Lübeck.«
NDR 2, das ist NDR 2! Ihre Freunde! Sie haben sie zurückgeholt. Die Zigarette hat ein Loch ins Tischtuch gemacht. Schnell, schnell weg damit, sonst wird Hinnarck böse. Aufstehen. Neues Tischtuch holen.
17 Transit
Mehmet gähnte, während der Beamte am Schalter für EU-Bürger seinen britischen Pass von allen Seiten betrachtete, als sei er ein fauler Apfel. Er sah sich um und bemerkte die lange Schlange von Einreisenden aus nicht-europäischen Ländern, die sich durch die halbe Ankunftshalle von Heathrow um einen Irrgarten von Metallabsperrungen wand.
Eine Diskussion am Nebenschalter zog seine Aufmerksamkeit auf sich. »Wieso Bargeld? Was geht Sie mein Bargeld an?«
Mehmet horchte auf. Er hatte schon oft reiche Verwandte aus Pakistan vom Flughafen abgeholt, die sich über die Behandlung durch die britische Einwanderungsbehörde beklagten. Der arrogante Unterton des jungen Asiaten
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