Cut
murmelt dir einen Gruß zu, aber du verstehst nicht, was er sagt. Ohne dich weiter zu beachten, drückt er sich an dir vorbei, vermutlich in Richtung Gartentor. Für einen kurzen Moment denkst du – nein, er ist zu jung. Fragend guckst du Charlotte an.
»Ludwig schläft endlich«, flüstert sie und legt den Finger auf den Mund. Irgendwo hinter sich zieht sie ihren obligatorischen Persianermantel hervor und schiebt dich ebenfalls rückwärts in die Kälte.
»Ludwig?«, fragst du und drehst dich noch mal nach dem Mann um, der sich gerade Richtung Stadtzentrum in Bewegung setzt. »Aber dein Vater ist doch schon lange tot.«
Charlotte guckt dich vorwurfsvoll an. »Mein Vater hieß Albrecht«, sagt sie jetzt mit ihrer normalen Stimme, ganz die strenge Ärztin. »Ludwig ist mein –« Siehst du einen Funken Trotz in ihren Augen aufleuchten? »– mein Partner. Und das war ein Journalist, der ihn interviewt hat«, setzt sie hinzu, wie um weitere Fragen zu unterbinden. Aber du lässt dich nicht so leicht vom Thema abbringen.
»Heißt das, du hast einen Freund? Mensch, wie schön, hat dich also doch noch einer rumgekriegt.« Du hakst dich unter und versuchst die Nähe wiederherzustellen, die du als Kind zu Charlotte hattest. Die unabhängige Charlotte, selbstbewusste Ärztin und ein Kumpel zum Pferdestehlen, wie es Emma manchmal ehrfürchtig ausdrückte.
»Rumgekriegt würde ich nicht sagen«, murmelt sie jetzt, aber ein Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab.
Langsam schlendert ihr in Richtung See. Nur nicht zum Bootshaus, schießt es dir durch den Kopf. Dein Glück, Charlotte hat sich schon für die andere Richtung entschieden. Sie startet ihren ausholenden Wandertagsschritt.
»Was verschafft mir eigentlich nach«, sie rechnet, »über zehn Jahren die Ehre deines Besuches? Als du heute Morgen angerufen hast, klang es sehr dringend.«
Du weichst ihrem Blick aus und fixierst die Blässhühner, die auf dem See herumfiepen. »Ja weißt du, ich wollte dich eigentlich nach meinem Vater fragen«, sagst du so beiläufig wie möglich.
»Hinnarck? Was ist mit dem?« Sie legt immer noch ein Tempo vor, das dich kaum Luft holen lässt.
»Nicht Hinnarck.« Du lässt deinen Blick vorsichtshalber bei den Blässhühnern. »Der andere. Der Inder.«
Charlotte bleibt endlich stehen und sieht dich an. »Was?«
Die Blässhühner flattern aufgeschreckt davon. Du zwingst dich, deine Patentante ebenfalls anzusehen. Du bist eine erwachsene Frau und hast ein Recht auf vernünftige Antworten. Du musst nichts erklären.
Charlotte schweigt.
»Emma ist vielleicht verrückt, aber ich nicht.« Deine Stimme klingt wie die einer beleidigten Zwölfjährigen. »Du warst ihre beste Freundin damals, sonst wäre ich wohl kaum dein Patenkind. Und dann jedes Jahr zu Neujahr ein Scherenschnitt aus Tausendundeiner Nacht. Mitten im Winter. Ist mir erst heute aufgefallen.«
»Kannst du denn immer noch kein Subjekt benutzen?«, entfährt es Charlotte. Ihr müsst beide lachen, lange Nachmittage mit Hausaufgaben im Kopf, die Emma schon nicht mehr mit dir machen konnte.
Gerade als du dich fragst, ob sie überhaupt noch auf deine Frage reagieren wird, fängt Charlotte an zu reden. »Ich konnte dich doch nicht einfach direkt darauf ansprechen. Ich wusste doch gar nicht, ob du …« Jetzt sucht sie deine Nähe und hakt sich wieder bei dir ein, während ihr langsamer weitergeht.
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass Emma jemals auf mich Rücksicht genommen hat.« Du fühlst, wie eine lang vergessene Vertrautheit zwischen euch zu schwingen beginnt. »Ich glaube, es war ihr zweiter Nervenzusammenbruch, also muss ich so acht gewesen sein. Als Hinnarck von der Arbeit kam, war es schon zu spät und er konnte nur noch die Scherben zusammenfegen und mir erklären, worum es ging. Ich weiß noch, dass ich das Indianerkostüm anhatte, das du mir geschenkt hast. Er ließ mich bei Manitou schwören, dass ich mein Wort halten und niemandem in Harmsdorf was erzählen würde. Ich hab mein Wort gehalten. Echt, bei Manitou!«
Dir entwischt ein hysterisches Kichern, aber Charlotte schüttelt nur traurig den Kopf. Sarkasmus ist noch nie ihre Stärke gewesen.
»Es ist alles so lange her. Ich denke, du hast ein Recht darauf, die Geschichte von Anfang an zu hören.« Du merkst, wie sie in ihre eigene Zeitschleife abtaucht, und hältst gespannt den Atem an. »Ich hatte gerade meine Praxis eröffnet und ganz Harmsdorf lief mir die Tür ein. Vielleicht nur, um die ledige
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