Cut
Ausrutscher in London wieder gutzumachen.
Nachdenklich betrachtete er das Foto von Matties Oma, das jetzt wieder an seinem alten Platz stand. Es war ihm vorher nicht aufgefallen, aber sie hatte genau den gleichen Ausdruck im Gesicht. »Verräter!«, sagten ihre Augen. Wen hatte sie damit gemeint, damals, als das Foto gemacht wurde?
Nick drehte sich um und marschierte wieder los. Matties Oma hatte ihn ja nicht mal gekannt!
Wo blieb nur Mattie? Er überlegte kurz, sie auf dem Handy anzurufen. Nein, lieber doch nicht. Sein Verhalten ließ sich nicht am Telefon erklären. Bis sie zurückkam, musste er sich eben beschäftigen.
Er blieb stehen, öffnete den Reißverschluss seiner Tasche und warf nacheinander den ganzen Inhalt aufs Sofa, bis er die Minidisc von Cal in der Hand hielt. Er legte sie in seinen Walkman ein, drückte auf Start und ließ sich auf den Rücken fallen. Dabei spürte er Papier unter sich rascheln. Irritiert zog er ein englisches Magazin mit der Überschrift Tracks unter seinem Hintern hervor. Eine Musikzeitschrift? Dann erinnerte er sich, dass der Weltverbesserer sie ihm geschenkt hatte, der jetzt tot war.
Nick merkte, wie das beunruhigende Gefühl aus seinem Magen langsam nach oben stieg. Irgendwie hatte er den Mann gemocht. Aber deswegen würde er doch jetzt nicht heulen. Hastig öffnete er die Zeitschrift und begann zu lesen.
41 Werter
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Du hast die Augen halb geschlossen und versuchst die winzigen Segelchen des Modellschiffes zu zählen. Geduld, Mattie.
Der alte Sörensen hat die Kladden auf den Schreibtisch getragen. Jetzt hebt er sie Stück für Stück hoch, klopft sie vorsichtig aus und blättert darin, wobei er jedes Mal gewissenhaft an seinem Zeigefinger leckt. Du gibst das Zählen auf, weil sich eine dicke Staubwolke zwischen dich und die Gorch Fock geschoben hat. Du musst niesen. Staubige Erinnerungen scheinen das Motto des heutigen Tages zu sein.
»1962! Wenn sie auf mich gehört hätten. Ich sag noch: Jungs, da kommt ’ne Sturmflut, aber ganz kräftig. Das Wasser stand so hoch hier im Büro. Man sieht’s noch.« Er wedelt mit einer angefressenen Kladde vor deinem Gesicht. Du musst husten.
»Wollten Sie nicht nach 1971 suchen?« Du hast dir wirklich die Richtigen ausgesucht. Erst Emma und jetzt dieser alte Seebär. Im Kino kommt die Heldin irgendwohin und schwupp – beim nächsten Schnitt hat sie die Informationen. Sonst würde das Publikum sein Geld zurückverlangen.
Sörensen samt Pfeife ist schon wieder in ein neues Heft vertieft. »1971. Na, wer sagt’s denn? Alles hat seine Ordnung bei Sörensen.« Deine Aufmerksamkeit springt wieder an und du würdest ihm am liebsten das alte Kalenderheft aus der Hand reißen. Aber er blättert in Zeitlupe Seite für Seite um.
Eine halbe Ewigkeit hörst du nur das Geräusch des Fingerschleckens und das Rascheln der Seiten.
»Hier ist es. Mittwoch, der 17. November. Schönes Wetter. Windstärke 2, Südost. 18 Grad, Sonnenschein.«
»Und?« Du bist aufgestanden, aber du kannst sein Gekritzel nicht lesen, schon gar nicht auf dem Kopf.
»Nix und, Deern. Ich erinner mich, das war ein ungewöhnlich warmer November. Viel zu warm für die Jahreszeit. Moment, das war doch, als …«
Er hebt das Heft direkt vor seine Nase und blättert eine Seite weiter. Ein zusammengefaltetes Stück Zeitung segelt auf den Boden. Schnell kriechst du unter den Tisch und suchst zwischen seinen Beinen nach dem Papier, während du mit halbem Ohr auf sein Gemurmel lauschst.
»Natürlich. Die Deern hat Recht gehabt, verflixt noch mal. Das war doch das Jahr, wo sie die Leiche aus dem Hafen gefischt haben. Und weil das irgend so ’n Ausländer war, dachten die gleich, das wär ein Seemann. Haben die hier ein Trara gemacht, weil die Schiffe nicht raussollten!«
Du hast dich mitsamt dem Zeitungsausschnitt wieder auf deine Seite des Schreibtischs zurückgezogen. Schnell überfliegst du den Artikel unter der Überschrift Mord im Hafen?
»Drei Schiffe wurden festgehalten, darunter das Schulschiff der indischen Marine, die Indira. Bereits am Abend jedoch fand man die Papiere des Toten, und es stellte sich heraus, dass er sich als Tourist in Hamburg aufhielt. Blablabla …« Deine Augen rasen über die Zeilen. »Name Rajiv Kher – Würgemale am Hals – Polizei bittet um Mithilfe – das war’s.« Jetzt wedelst du mit dem Ausschnitt vor Sörensens Gesicht. »Indira! Die muss es sein, ganz bestimmt! Also brauchen wir nur
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