Cut
Alles konzentriert sich auf Atlanta. Und wir hätten gerne, dass es so bleibt.»
Wir stiegen in einen Elektrowagen, und sie fuhr uns über den grünen, mit Bäumen gesäumten Campus. Hier hatte Anne Chambers gelebt, hier war sie gestorben. Ich musste an ihre Familie denken, an die Menschen, die sie geliebt hatten. Die haben sie nicht vergessen, Mrs. Dailey. So etwas vergisst man niemals. Aber ich behielt meine Gedanken für mich.
Mary Dailey führte mich in Anne Chambers’ ehemaliges Zimmer und ließ mich allein. Die Wände waren minzgrün. Ich fragte mich, wie oft sie in den letzten fünfzehn Jahren wohl gestrichen worden waren und wie viele Studenten hier gewohnt hatten. Die beiden Einzelbetten und ein Bücherregal gehörten zur Grundeinrichtung. Außerdem gab es in dem gut achtzehn Quadratmeter großen Raum einen kleinen Schreibtisch, einen winzigen Kühlschrank und ein Waschbecken. Kein Bad. Überall lagen Bücher und Kleider und Imbissverpackungen verstreut.
Als Chambers, die Kunststudentin, hier gelebt hatte, hatte der Raum nicht wesentlich anders ausgesehen. Das zeigten die Fotos vom Tatort.
Kunst
. Wer studiert Kunst im Hauptfach? Eine Träumerin, dachte ich, und dabei überkam mich plötzlich tiefe Trauer.
Das Zimmer lag im Erdgeschoss, hatte zwei Fenster und war lichtdurchflutet. Ich erinnerte mich an die Morde von Ted Bundy, die ich bearbeitete, als ich gerade an das Nationale Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen versetzt worden war. Damals, als Bundy hier in Florida sein Unwesen trieb, junge Frauen verfolgte und ermordete, legten verängstigte Studentinnen der FSU Laub und zusammengeknüllte Papiere vor ihre Fenster, weil sie hofften, dadurch vor einem Herumtreiber gewarnt zu werden. Andere pflanzten Kakteen und vernagelten ihre Fenster. Es half aber alles nichts. Bundy war nicht der Typ, der durchs Fenster einstieg. Seine Waffen waren sein gutes Aussehen, sein Charme und seine vorgetäuschte Freundlichkeit. Seine Opfer kamen freiwillig zu ihm. Nachdem Anne Chambers hier abgeschlachtet worden war, hatten junge Frauen bestimmt erneut Angst gehabt, nachts allein über den Campus zu gehen oder ihre Zimmer zu verlassen.
Die Wände waren dünn. Selbst durch die verschlossenen Türen drangen Musik und Geräusche herein.
Der Mord hatte am helllichten Tag stattgefunden. Zu der Zeit war das Wohnheim wahrscheinlich halb leer gewesen. Und doch war der Mörder offensichtlich gut vorbereitet, denn er wusste genau, wann er kommen konnte, wann Annes Mitbewohnerinnen nicht da waren und wie ihre Stundenpläne aussahen. Er hatte ihr einen schweren Schlag gegen den Kopf versetzt. Der war allerdings nicht die Todesursache, der Schlag diente lediglich der Überwältigung. Anne Chambers war mindestens ein paar Minuten unfähig, sich zu verteidigen oder Laute von sich zu geben, genug Zeit, um sie zu fesseln und zu knebeln.
Wie konnte der Mörder damals ungesehen davonkommen? Ich schaute mich im Flur um. Es erschien mir unmöglich,dass jemand mitten am Tag mit blutverschmierter Kleidung zu einem der Ausgänge gelangen konnte, ohne von einer Bewohnerin bemerkt zu werden. Am Tatort war überall Blut gewesen. Vielleicht durchs Fenster? Nein. Der nächste Parkplatz lag zu weit entfernt. Auch das nächste Gebäude. Jemand auf dem Campus hätte ihn sehen müssen. Vielleicht hatte der Mörder eine Tasche oder einen Koffer mit Werkzeug und Wäsche zum Wechseln dabeigehabt. Nein. Zu viel Ballast. Und dann kam ich drauf: Der Mörder hat sich für die Tat ausgezogen! Natürlich. Nackt mit dem Opfer zusammen zu sein war Teil des Rituals.
Ich wollte nicht mehr hier sein. Ich wollte tun, was ich früher immer getan hatte, wenn ich mir das Unvorstellbare vorgestellt hatte. Etwas trinken.
Stattdessen verbrachte ich den Tag damit, Anne Chambers’ Leben zu sezieren. Ich machte Listen von ihren Kommilitonen, Mitbewohnerinnen und Professoren und versuchte, sie aufzuspüren und anzurufen. Es war alles so lange her, dass es schwer war, jemanden zu finden, der sich, abgesehen von dem Mord, an sie erinnerte. Niemand schien etwas über Anne Chambers’ Beziehungen oder ihre Träume zu wissen. Sie hatte drei verschiedene Mitbewohnerinnen gehabt. Jede erinnerte sich an sie als schüchtern, distanziert, ja sogar ein bisschen verschlossen. Mary Dailey gab mir einen Stapel Jahrbücher aus der Zeit, und ich packte sie in meinen Wagen, um sie mir später anzusehen.
Ich rief Annes Mutter an und kündigte mich für den nächsten Morgen
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