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Cut

Cut

Titel: Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Kyle Williams
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beinahe schmerzhaft fest meine Hand.
    «Wenn Sie etwas für mich tun wollen, Miss Street», sagte sie, «dann finden Sie dieses Monster.»
    Ich folgte einen halben Kilometer lang dem Strand, bis er sich an einer Gruppe mit Moos überzogener Eichen zu einem sandigen, mit Treibholz übersäten Pfad verengte. Beim Gehen stellte ich mir vor, wie die sechzehn Jahre alte Anne Chambers morgens barfuß hier entlanggegangen war, mit einem eingepackten Frühstück und einer Thermoskanne in den Händen.
    Emma wusste, dass ich da war, bevor ich bemerkte, dass sie mich beobachtete. Ich war völlig abgelenkt von ihrem Domizil, das wie eine irre Mischung aus Kunstgalerie und Schrottplatz wirkte. Emma hatte in ihrem kleinen, sandigen Garten Waschbecken und Autositze, Stoßstangen, Fahrräder, alte Fenster und Türen, Hochsitze und alles erdenkliche, irgendwann einmal Ausrangiertes und Weggeworfenes zu kunstvollen Skulpturen aufgestapelt und zusammengefügt.
    Es war schön – und abscheulich. Bestimmt dreißig Jahre Arbeit steckten darin. Überall lümmelten und rekelten sich Katzen, die mich wachsam beobachteten. Es war warm und stickig, und die Moskitos hatten eindeutig noch kein Frühstück bekommen. Das Haus selbst war seit Ewigkeiten nicht gestrichen worden. Die Salzluft und der Zahn der Zeit hatten es bis aufs nackte Holz abgenagt. Als ich an die Fliegentür klopfen wollte, rührte sich etwas im Inneren.
    «Was wollen Sie?» Sie nuschelte ein wenig und hörte sich an wie Ozzy Osbourne. Sie hatte mich erschreckt, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen.
    «Ich kann nur ungefähr zwanzig Katzen sehen», sagte ich und lächelte. «Ich habe gehört, Sie hätten mindestens hundertfünfzig.»
    Durch das Fliegennetz konnte ich ein dreckiges Grinsen erkennen. «Sind Sie wegen einer Weissagung gekommen, oder wollen Sie da stehen bleiben und Katzen zählen?»
    «Ach, Sie sind Hellseherin?»
    Die Tür wurde aufgemacht. Emma sah aus wie eine böse Hexe. Sie war vielleicht eins fünfzig groß, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nicht immer so klein gewesen, sondern irgendwann geschrumpft war. Sie musterte mich mit ihren blassen, zusammengekniffenen Augen von Kopf bis Fuß, von meinen Ohrringen über die Armbanduhr bis zu den Schuhen. Sie schätzte ab, wie viel sie aus mir herausholen konnte. Ich kannte diesen Blick. Ich hatte ihn schon oft bei den Bettlern und Obdachlosen in den Straßen der Stadt gesehen. Sie seufzte enttäuscht und ging wieder hinein. Die Tür knallte hinter ihr zu.
    Ich blieb ein paar Augenblicke stehen, unschlüssig, was ich tun sollte, und hob dann ein bisschen die Stimme an. «Entschuldigen Sie?»
    «Kommen Sie», sagte sie. Es klang wie ein Fauchen.
    Sie saß an einem runden Tisch mit einer schweren roten Decke mit goldenen Verzierungen und Troddeln. Vor ihr lag ein Satz Tarotkarten. Das Innere das Hauses war genauso vollgestopft wie der Garten und nicht gerade sauber. Emma sammelte offensichtlich schon seit Ewigkeiten Müll.
    «Mischen Sie die.»
    Ich nahm die Karten und mischte sie ein bisschen. «Eigentlichbin ich nur gekommen, um Ihnen ein paar Fragen über Anne Chambers zu stellen.»
    «Wenn Sie keine Weissagung wollen, kriegen Sie auch keine. Kostet trotzdem fünfzehn Dollar.»
    «Annes Mutter sagte, dass sie immer hergekommen ist.»
    Emma schwieg.
    «Das Mädchen, das unten am Strand wohnte», meinte ich.
    «Ich weiß, wer.»
    Ich legte die Karten vor ihr auf den Tisch und zog schnell meine Hand zurück, ehe sie hineinbeißen konnte. Emma hatte wahrscheinlich auch noch nicht gefrühstückt.
    «Hat sie Kontakt zu Ihnen gehalten, als sie auf der Uni war?»
    Keine Antwort.
    «Wissen Sie, ob sie einen Freund hatte?»
    Sie fächerte die Karten auf und betrachtete sie eine ganze Weile. Irgendwo in meinem Kopf begann die Titelmusik von
Jeopardy
.
    «Ich habe es gesehen. Ich haben es kommen gesehen», sagte Emma schließlich. «Als sie mich besucht hat, habe ich sie gewarnt, dass sie in Gefahr ist. Sie hat mir nicht geglaubt, sie hat gesagt, sie wäre glücklich. Sie würden sich lieben, meinte sie.» Sie lächelte verkniffen, legte ihre alten Hände auf die Brust und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, als würde sie etwas an ihr Herz drücken. Das Wort lieben zog sie so in die Länge, dass es wie
liiieben
klang.
    «Sie meinen also, es war etwas Ernstes?»
    «Umgebracht zu werden ist ja wohl was Ernstes, oder?» Sie lachte. Es war ein feuchtes, krachendes Lachen, und ich war mir jetzt

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