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Cut

Cut

Titel: Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Kyle Williams
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erst die dunklen Mächte verstehen, die mich in etwas hineingezogen hatten, was bereits in meinen Genen angelegt war. Würde ich wieder dorthin geraten? Ich wollte nie wieder zurück. Niemals. Dabei habe ich noch heute jeden Tag Lust auf einen Drink, ständig will in mir irgendein Verlangen befriedigt werden, und das ist die wahre Qual der Sucht. Auch jetzt war ich hin und her gerissen, als ich die zwei mit doppeltem Zeilenabstand getippten Seiten aus dem Faxgerät nahm. Ich schloss die Augen, spürte die vertraute Beschleunigung des Pulses und ein Pochen in den Schläfen. Es war nicht Furcht oder Angst, es war etwas anderes – Vorfreude.
    Ich schaltete das Licht an und ließ mich mit dem Brief auf dem Sofa nieder.
     
    Lieutenant Aaron Rauser
    Polizei von Atlanta
    Morddezernat, City Hall East
     
    Es war nicht geplant. Ich war nicht seinetwegen dort. Das Schicksal hat sich eingemischt. Sie wollen verstehen, nicht wahr, Lieutenant? Sie wollen, dass ich mein Auswahlverfahren erkläre.
    «Was ist es, was für ein namenloses, unergründliches, unheimliches Wesen ist es   …?», wollte Melville wissen, so wie jetzt Sie. Dieses WARUM wird Sie zum Wahnsinn treiben. Es war in einem Fahrstuhl, eine zufällige Begegnung, er mit seinem zurückgekämmten schwarzen Haar, der seine Show abzog, und ich ihm so nahe, dass ich sein Rasierwasser riechen konnte. Angesichts seiner Wichtigtuerei wollte ich erst lachen, dann wurde mir regelrecht übel. Seine Gier war erdrückend. Ich beobachtete ihn und hörte zu. Ich kenne diesen Typ. Am Fuß seiner Karriereleiter stapeln sich die Leichen. Trotz achtzig Stunden pro Woche im Büro findet er noch Zeit, seine Frau zu betrügen. Er kann nicht ohne diesen außerehelichen Kitzel. Mit Sex will er seine innere Leere füllen. Und die ist groß. Er sagt, er liebt seine Frau und seine Kinder, aber er ist unfähig dazu. Er tut nur so, genau wie ich. Wie nennen die Profiler das heutzutage? Eine erfolgreiche soziale Tarnung? Lächelnd, plaudernd mit Arbeitskollegen und Nachbarn, denen man jovial die Hand auf die Schulter legt. Würde es Sie überraschen zu erfahren, dass ich Freundschaften aufgebaut habe? Natürlich keine tiefen, keine, in denen man intime Details austauscht oder sonst etwas tut, was üblicherweise zu einer Freundschaft gehört, selbst wenn es so
wirkt. Ich bin gut darin. Die Menschen mögen mich, Lieutenant. Ob sie mir wohl deshalb die Tür öffnen?
    Soll ich Ihnen etwas verraten? Passen Sie auf, denn das werden Ihre Analytiker wissen wollen: Wenn ich bei ihnen bin, wenn sie mich bitten aufzuhören, wenn sie mir sagen, dass ich ihnen wehtue, wenn sie wissen wollen, warum ich das tue, dann frage ich: «Wie fühlt es sich an? Wie fühlt sich das im Inneren an?» Sie wissen nie, was sie sagen sollen. Sie verstehen nicht einmal meine Frage. Ich forsche weiter. Ich dränge sie und lasse ihnen keine Ruhe. Ich will es wissen. Wie fühlt sich das an, verdammt? Wenigstens gebe ich ihnen einen handfesten Grund für ihr Leiden, einen Schmerz, der genau bestimmt und heldenhaft erduldet werden kann, einen Schmerz, für den man sich nicht rechtfertigen muss. Manchmal ist es gut, einen Schmerz zu spüren, auf den man sich völlig konzentrieren kann. Deswegen fügen sich manche Menschen Schnittwunden zu, ich verstehe das jetzt. Im Grunde bluten wir sowieso die meiste Zeit. Also können wir den gottverdammten Blutfluss ruhig sehen, der aus uns herausströmt. Keine Empathie, denken Sie. Total egozentrisch. Aber woher weiß ich, wie ich ihnen wehtun kann, wenn ich mich nicht umfassend mit Schmerz und Erniedrigung auskennen würde? Man muss eine nichtegozentrische Perspektive haben, um die wahren Freuden der Egozentrik zu genießen. Völlig krank, sagen Sie. Aber beurteilen Sie mich nicht nach Ihren Wertmaßstäben. So werden Sie mich nicht finden. Wir beide haben einfach unterschiedliche Ideale. Ein kranker Geist hätte doch wohl Probleme, so lange einer Entdeckung zu entgehen, oder? Und ich bin länger dabei, als Sie glauben, Lieutenant.
    Ich sagte an diesem Morgen im Fahrstuhl hallo zu ihm, wir gaben uns die Hand. Beginnen Sie zu frohlocken, wenn Sie das lesen? Eine Begegnung in der Öffentlichkeit, Zeugen, Überwachungskameras. Das wird Sie neugierig machen. In
welchem Gebäude war das, in welchem Fahrstuhl? Kannten wir uns schon zuvor? Er lächelte mich wölfisch an, und in dem Moment wusste ich, dass er ein Jäger ist, genau wie ich. Soll ich Ihnen einen Hinweis geben, etwas Hoffnung machen?

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