Cvon (Ushovar-Zyklus) (German Edition)
führte die wohl eher spärlichen Besucher zu einem kreisrunden Loch in gut zwanzig Schritten Höhe, das das Innere des heiligen Bauwerks erschließen mochte. Doch schon hier, gut hundert Schritte entfernt, kroch jedem atmenden Wesen bereits ein beklemmendes Gefühl von Kälte und ruhender Macht in die Glieder.
Nur eine Gottheit bewohnte Tempel von solch monströser Perfektion: Chind’arse, die Göttin der Dunkelheit, der Nacht und des Todes. Hilfe suchend glitt Naginars Blick über den Rest der Gruppe. Niemand ging in einen Chind’arse-Tempel, um jemanden heilen zu lassen. Niemand! In Naginars Augen begab sich überhaupt kein vernunftbegabtes Lebewesen freiwillig in ein Haus der Todesgöttin!
Er hatte Geschichten von Verrückten gehört, die in den Mauern eines Chind’arse-Tempels mit toten Angehörigen gesprochen haben wollten, oder die zum Sterben in das Haus der Vierarmigen kamen. Aber zum Leben – zum Leben kam niemand hierher!
Doch die Anderen wichen Naginars Blick aus; keiner schien besondere Lust zu verspüren, sich einem zu allem entschlossenen Loric in den Weg zu stellen. Duice trug Cvons Schwert über der Schulter und schien noch nie etwas Interessanteres als seine Füße betrachtet zu haben. Phalils Aufmerksamkeit betraf in erster Linie den Horizont und die Etherna betrachtete Lorics Gesicht mit diesem nicht einzuordnenden Blick, mit dem sie Naginar schon seit geraumer Zeit maßlos überforderte.
„Loric, das ist ein Chind’arse-Tempel.“ Naginar nahm all seine Ruhe zusammen.
„Niemand zwingt dich, mitzukommen“, knurrte Loric zurück, ohne seinen Freund auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch Naginar war viel zu aufgeregt, um die Kränkung richtig wahrzunehmen.
„Unsinn! Aber niemand geht in einen IHRER Tempel, um Heilung zu erhalten!“
„Halt die Klappe, Naginar“, kam es mit deutlicher Verzögerung. Auch wenn es kaum hörbar war, entging Naginar das leichte Zittern in der Stimme des Freundes nicht. So hatte er Loric noch nie erlebt. Ein einfühlsameres Wesen als er hätte erkannt, dass der Sohn des Chambarocks das erste Mal in seinem Kriegerleben um die Fassung kämpfte und jeden Augenblick in Tränen ausbrechen oder einen Tobsuchtsanfall bekommen konnte.
Doch auch Naginar wusste instinktiv, dass er an einer Grenze stand. Einen Augenblick erforschte er Lorics verbissene Züge; dann straffte er resigniert die Schultern. Sie waren Waffenbrüder und würden das zusammen durchstehen. Es gab nichts mehr zu sagen.
Begleitet von drückendem Schweigen, das nur Hrokis Stimmung unbeeinträchtigt ließ, erreichte die Gruppe wenige Minuten später den Tempel. Mit bangem Blick auf die nur noch leise röchelnde Wächterin erklomm Loric die enge Treppe und stand kurz darauf vor dem kreisrunden Eingang in die enorme Kugel.
Die gähnende Schwärze im Inneren schien unendlich. Sekundenlang musste er gegen das unangenehme Gefühl ankämpfen, hineinzustürzen. Einen winzigen Moment sah er sich in die Dunkelheit fallen, sich im Nichts auflösen und für alle Ewigkeit tiefer in der Schwärze versinken.
Eine kleine Insel aus Licht auf dem Boden im Inneren schien der einzige Besucher aus der Welt der Lebendigen in Chind’arses Haus zu sein. Ein Besucher, so fest umzingelt von Grabesstille und Dunkelheit, dass man ihn eher für einen Gefangenen halten musste.
Mühsam schüttelte Loric die lähmende Furcht ab, drückte den schlaffen Körper in seinen Armen schützend an sich und trat entschlossen ein.
Nichts deutete darauf hin, dass seine Anwesenheit registriert worden wäre. Selbst der Hall seiner Schritte wurde von der beinahe greifbaren Stille unterschlagen. Zögerlich folgten Duice und Naginar, während Hroki in der Tür stehen blieb. Von Phalil war nichts zu sehen. Nicht, dass Loric in diesem Augenblick auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet hätte.
Der Ork trug seine kostbare Last in die Mitte der Lichtinsel und sah sich etwas hilflos um. Wie lautlos dahingleitende Eisblöcke schien sich die Stille zu nähern. Langsam fiel er auf die Knie und wartete quälende Momente, bis er genug Mut hatte, den Ring aus Stille zu sprengen.
„Hallo?“ Der Hall seiner Stimme wurde nicht zu ihm zurückgeworfen, sondern versackte irgendwo in der Dunkelheit. Nichts als ein Schauer blieb zurück.
„Sie, deren Atem die Zeit und deren Wort das Schicksal ist, hört dich, Krieger“, kam es viel zu nah zurück.
Der Fremde konnte nicht mehr als eine gute Armlänge von Loric entfernt in der Dunkelheit
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