Cyber City
Arbeitszone, dicht über dem Boden. Für den Berg von Programmen, die sie damit aufgerufen hatte, war der leere Würfel vor ihr nun ein ganzes Universum. Ein kleines, noch leeres Universum.
Maria rief ein einzelnes Nutrose-Molekül auf, dargestellt durch ein Kugelstabmodell. Eine Bewegung mit ihrem behandschuhten Zeigefinger versetzte es in langsame Rotation. Die nach oben und unten abgewinkelten Enden des hexagonalen Ringes erweckten den Eindruck einer ständigen Zickzackbewegung durch die Molekülebene hindurch. An einem der außerhalb der Ringebene liegenden Enden sah man ein zweiwertiges blaues Atom, nur mit seinen beiden Nachbarn in der Ringstruktur verbunden; die fünf übrigen waren vierwertige grüne Atome mit jeweils zwei weiteren Bindungen. Jedes der grünen Atome hatte eine Bindung zu einem einwertigen roten Atom – auf der Oberseite dort, wo das Molekül nach oben gewinkelt war, auf der unteren, wo auch das Ende nach unten zeigte. Vier der grünen Atome besaßen je eine Bindung nach der Seite zu je einem weiteren blauen Atom, das seinerseits – nach außen gerichtet – ein rotes Atom trug. Das fünfte grüne Atom besaß dagegen noch ein weiteres grünes als Satelliten, das seinerseits zwei rote und am Ende eine eigene blau-rote Kombination trug.
Die Grafiksoftware zeigte das Molekül als einen festen Körper, indem sie einfallendes Licht berücksichtigte und entsprechend reflektierte. Maria beobachtete, wie das Molekül langsam in dem Arbeitsbereich rotierte; die leicht unsymmetrische Form gefiel ihr. Ein wirklicher Chemiker, dachte sie amüsiert, würde einen kurzen Blick darauf werfen und sagen: »Na schön, Glucose – Grün für Kohlenstoff, Blau für Sauerstoff, Rot für Wasserstoff … Oder?« Mitnichten! Er würde es eine Weile anstarren, die Handschuhe anziehen und es mit sicherem Griff arretieren, würde einen Winkelmesser aus der Werkzeugkiste zaubern und die Bindungswinkel messen, die Tabellen über Bindungsenergien und Schwingungsverhalten aufrufen, vielleicht auch Kernresonanzspektren sehen wollen (die es nicht gab – die vielmehr, um es in unschöner Offenheit zu sagen, in diesem Fall nicht anwendbar waren). Schließlich, wenn ihm das ganze Ausmaß der Blasphemie dämmerte, würde er das Teufelsding entsetzt von sich stoßen und schreiend davonlaufen: »Das widerspricht dem Periodensystem Mendelejews!«
Das Autoversum war ein »Spielzeuguniversum«, ein Computermodell, in dem eigene, vereinfachte »physikalische« Gesetze galten – Gesetze, die mathematisch mit viel geringerem Aufwand zu handhaben waren als jene der wirklichen Welt mit all ihren quantenmechanischen Komplikationen. Zwar gab es in diesem Modelluniversum Atome, doch sie waren von anderer Art als die bekannten Bausteine der Materie. Das Autoversum war eine ungenaue, ja, willkürliche Simulation, die mit der Wirklichkeit kaum mehr gemein hatte als das Schachspiel mit mittelalterlicher Kriegsführung. In den Augen echter Chemiker war es gefährlich und heimtückisch, denn die falsche Chemie war einfach zu großartig, zu vielfältig, zu verführerisch.
Maria schob die Hand wieder in die Arbeitszone und stoppte die Rotation des Moleküls; ziemlich grob riß sie das einsame rote Atom und die blau-rote Gruppe von einer der grünen Kugeln und vertauschte sie, so daß die vorher waagrecht angeordnete blau-rote Gruppe jetzt nach oben zeigte. Der Kraftaufwand beim Hantieren mit den Handschuhen, der deutlich fühlbare Widerstand der Kugeln zwischen den Fingern, das täuschend echte holographische Bild, das leise Klicken wie von Plastik, wenn man die Teile zusammensteckte – das alles erweckte den Eindruck, als würde man mit den Elementen eines echten Molekülbaukastens arbeiten.
Das virtuelle Kugelstabmodell war einfach zu handhaben, auch wenn manches, was dieses kinderleichte Manövrieren mit Atomen ermöglichte, der Physik des Autoversums widersprach: Wie ein zahmes Tier verharrte das Molekül, solange Maria daran arbeitete, und nahm erst nach dem Loslassen seine Eigenbewegung wieder auf. In diesem Fall reagierte es mit heftigen, sich von Atom zu Atom ausbreitenden Oszillationen auf den gewaltsamen Eingriff, bis ein neues, stabiles geometrisches Gleichgewicht gefunden war.
Das gehörte zu den Dingen, die Maria stets aufs neue ärgerten; sie wollte sich nicht damit abfinden, daß man die Objekte dieser Welt nach Regeln manipulierte, die mit ihren Gesetzen nicht in Einklang standen – auch wenn es überaus praktisch war. Mehr
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