Cyber City
virtuellen Umgebung nach dem neuesten Stand der Technik herumspazieren konnte. Eine Kopie bestand nicht aus Atomen oder Molekülen – die Organe dieses virtuellen Körpers existierten nur in Gestalt spezifischer Subroutinen, als Unterprogramme, die wußten (empirisch, nicht auf molekularer Ebene), wie eine richtige Leber, ein Gehirn oder eine Schilddrüse arbeitete. Keine dieser Subroutinen konnte die Schrödinger-Gleichung für auch nur ein einziges Protein lösen. Alles Physiologie, keine Physik.
Lambert und seine Jünger hatten sich irgendwo in der Mitte zwischen beiden Extremen bewegt. Sie hatten eine neue Physik erdacht, einfach genug, um einige tausend Bakterien mit nicht allzu großem Aufwand in einem Modell unterbringen zu können – für das ein zusammenhängender, keine Zweideutigkeiten zulassender Satz von Regeln bis hinunter in den subatomaren Bereich galt. Hier begann alles im Kleinen, auf der untersten Ebene der physikalischen Gesetze, nicht anders als in der realen Welt auch.
Der Preis für diese Einfachheit war, daß sich ein Autoversum-Bakterium nicht notwendigerweise so verhielt wie sein Gegenstück aus der wirklichen Welt. A. lamberti war dafür berüchtigt, die üblichen Erwartungen an ein Bakterium auf immer neue und unvorhersehbare Art zu enttäuschen – für die meisten seriösen Mikrobiologen Grund genug, jede Beschäftigung damit als unnütz abzutun.
Aber gerade das war das Interessante, wenn man zu den Autoversum-Süchtigen gehörte.
Ungeduldig schob Maria die Diagramme beiseite, die ihr den Blick auf die Petrischalen verstellten; sie nahm eine der eifrig wuchernden Kulturen ins Visier und vergrößerte das Bild immer weiter, bis ein einzelnes Bakterium die gesamte Arbeitszone ausfüllte. Blau, der Farbcode für »gesund« – ein gleichmäßig blauer Fleck ohne Strukturen; auch als sie eine Kartierung der chemischen Zusammensetzung aufrief, waren außer der Zellwand keine Strukturen zu erkennen: keine Organellen, keine Geißeln. A. lamberti war kaum mehr als ein Sack Protoplasma. Maria spielte mit der grafischen Darstellung, machte die entrollten Stränge der Chromosomen sichtbar, die Regionen der Proteinsynthese im Plasma, verfolgte den Weg der Nutrose und ihrer unmittelbaren Abbauprodukte. Ein teurer Spaß, was die Rechnernutzung betraf. Sie hätte sich für die Geldverschwendung ohrfeigen können (wie jedesmal), aber sie brachte es einfach nicht fertig (wie jedesmal), alle Funktionen bis auf die unbedingt nötige Auswertungssoftware (und das Autoversum selbst) abzuschalten. Sie brachte es nicht fertig, dazusitzen und geduldig in die Luft starrend auf ein Ergebnis zu warten.
Statt dessen drang sie noch tiefer in den Mikrokosmos vor, befahl dem Rechner, die einzelnen Atome in ihrem Farbencode darzustellen (nur die allgegenwärtigen aqua -Moleküle sollten ausgeblendet bleiben). Sie hielt die Zeit an, denn das Verschwimmen des Bildes durch die thermische Bewegung der Atome behinderte sie bei der Suche. Immer weiter vergrößerte sie das Bild, bis aus den undeutlichen Flecken, die über die gesamte Arbeitszone verstreut waren, ein kompliziertes Geflecht aus langkettigen Lipiden, Polysacchariden, Peptidoglycanen geworden war. Alles Namen, die man bei den Chemikern gestohlen und auf analoge Verbindungen übertragen hatte – wer zum Teufel wollte schon sein Leben damit verbringen, eine völlig neue biochemische Nomenklatur zu entwerfen? Daß Lambert deutlich unterscheidbare Farben und die passenden Namen für alle zweiunddreißig Atome des Autoversums definiert hatte, fand Maria schon beeindruckend genug.
Sie trieb durch ein Meer aus Molekülen, eines komplizierter als das andere, und jedes einzelne davon hatte A. lamberti aus nichts weiter als Nutrose, aqua, pneuma und einigen Spurenelementen synthetisiert. Sosehr Maria sich auch bemühte, ein Mutose-Molekül konnte sie nicht finden. Sie startete MAXWELLs DÄMON und überließ der Subroutine die Suche. Die kleine, aber wahrnehmbare Verzögerung, mit der ihre Befehle ausgeführt wurden, ließ sie zu keiner Zeit vergessen, mit welch ungeheurer Datenmenge sie hantierte – und daß diese Daten auf ganz besondere Art organisiert waren. Eine der üblichen biochemischen Simulationen würde sich von Anfang an jedem einzelnen Molekül an die Fersen geheftet haben; so hätte Maria fast noch im selben Augenblick erfahren, wo sich das nächstgelegene Mutose- Molekül befand. Für eine derartige Simulation existierte nur, was in der
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