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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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von »Eine unordentliche Familie« waren nach den demographischen Erhebungen bei den Bevölkerungsschichten am höchsten, die am wenigsten von den zugrundeliegenden technischen Fakten verstanden: ein volles Reservoir an gutem Willen, das erst noch auszubeuten war. Thomas konnte sich gut vorstellen, wie das Problem demnächst im Fernsehen umgesetzt wurde: Der wiederauferstandene einfache Arbeiter Larry Fehler würde plötzlich verdächtigt werden, kurz vor seinem Tod einen Mord begangen zu haben … Rückblende: Ein Mißverständnis in einer Bar führt zu einem hitzigen, für jedermann sichtbaren Streit zwischen Larry F. und dem Gaststar X.; die übliche, mit deftiger Komik ausgebreitete Eskalation bis hin zur Schlägerei … Schauspieler R. in der Rolle von Gast Y. nutzt die allgemeine Verwirrung, um X. eine Flasche über den Schädel zu hauen, während der Tolpatsch Larry längst bewußtlos unter dem Tisch liegt … Nach dem neuen Gesetz würde man die Kopie Larry nun bei Nacht und Nebel vom heimischen Herd holen und einer kafkaesken virtuellen Befragung unterziehen. Man würde die wirren, geträumten Schuldgefühle als Beweis ansehen, daß Larry tatsächlich das Verbrechen begangen hatte … während Gaststar Y. vor einem ordentlichen menschlichen Gericht log, daß sich die Balken bogen – Freispruch … natürlich würde Sohn Leroy, wie üblich, in letzter Minute alles aufklären.
    Thomas schloß die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen. Der größte Teil seiner Umgebung hörte auf, berechnet zu werden. Er stellte sich vor, er würde auf einem kleinen Floß Durhams Meer aus Zufallszahlen durchschiffen, einem Floß aus seinem Sessel und einem Stück Fußboden darunter – den einzigen Gegenständen, die durch seine Berührung Festigkeit und Beständigkeit behielten.
    Laut sagte er: »Ich habe nichts zu befürchten!« Das Zimmer verfestigte sich eben lang genug, um den Klang seiner Stimme durch Schallreflexionen zu modifizieren, und löste sich dann wieder im statischen Rauschen auf.
    Wer sollte ihn denn anklagen? Es gab niemanden mehr, der sich um Annas Tod scherte. Er hatte sie alle überlebt.
    Aber solange die Erinnerung an seine Tat existierte – auch wenn es nur in seinem Innern war – so lange konnte er nicht sicher sein, daß sie nicht eines Tages doch ans Licht kam.
    Noch Monate nach dem Verbrechen hatte er geträumt, daß Anna in seine Wohnung gekommen war. Schweißgebadet und schreiend war er jedesmal aufgewacht und hatte in die Dunkelheit seines Schlafzimmers gestarrt, darauf gewartet, daß sie sich zeigte. Darauf gewartet, daß sie den Schleier der Normalität um ihn herum zerriß und den Beweis seiner Verdammnis aufdeckte: Blut, Feuer, Wahnsinn.
    Nach einiger Zeit hatte er begonnen, aus seinem Bett aufzustehen und nackt durch die Dunkelheit zu wandern, sobald der Alptraum ihn geweckt hatte. Er hatte auf ihre Erscheinung gewartet, wollte sie willkommen heißen. Er war in der Finsternis durch jedes Zimmer seiner Wohnung gewandert, die meisten so dunkel, daß er sich seinen Weg mit ausgestreckter Hand ertasten mußte – und hatte darauf gewartet, daß ihre Finger plötzlich die seinen ergriffen.
    Nacht für Nacht hatte er vergeblich gewartet. Nach und nach wurde ihr fortwährendes Nichterscheinen zum größten aller Schrecken, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die nächtlichen Schatten blieben leer, nichts rührte sich im Dunkel. Nichts verbarg sich unter der Oberfläche dieser Welt. Er hätte hundertfach, tausendfach morden können, und immer noch hätte die Nacht keine Erscheinung vor ihm entstehen lassen, die ihn für seine Taten zur Rechenschaft zog.
    Er fragte sich, ob ihn seine Zwangsvorstellungen allmählich in den Irrsinn treiben würden.
    Sie taten es nicht.
    Später hatten sich seine Träume geändert. Keine wandelnden Toten mehr. Statt dessen träumte er, daß er zu einem Hamburger Polizeirevier marschierte und ein Geständnis seiner Tat ablegte.
    Thomas strich über die Narbe auf der Innenseite seines Unterarms. Sie stammte von einer Verletzung, die er sich bei seiner hastigen Flucht am Mauerwerk vor Annas Fenster zugezogen hatte. Niemand – nicht einmal Ilse – hatte ihn je gefragt, woher sie stammte. Er hatte sich eine passende Geschichte ausgedacht, eine plausible Erklärung, aber die Lüge war nie über seine Lippen gekommen.
    Er wußte, daß er jede Erinnerung an sein Verbrechen leicht aus seinem Gedächtnis hätte entfernen können. Streichen, Löschen –

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