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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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einige Korrekturen an seiner gespeicherten Scan-Datei oder seinem aktuellen Quasigehirn oder an den Momentaufnahmen für den Notfall. Kein Beweis würde übrigbleiben. Die Vorstellung, daß irgend jemand – geschweige denn der Staat oder das Gesetz – auch nur den leisesten Verdacht haben könnte, war einfach lächerlich – von der Möglichkeit, die kompromittierenden Daten zu beschlagnahmen und zu studieren ganz abgesehen. … aber wenn es ihm half, seine paranoide Angst im Zaum zu halten: warum nicht? Warum sollte er nicht etwas gegen das unbehagliche Gefühl unternehmen, daß die technische Möglichkeit bestand, in ihm zu lesen wie in einem Buch (oder einem ROM-Chip), warum sollte er nicht dieselbe Technik zu seinem Vorteil anwenden? Warum sollte er nicht die verräterischen Kapitel aus seiner Vergangenheit umändern? Andere Kopien nutzten die Möglichkeiten ihres neuen Selbst geradezu exzessiv aus … Warum sollte er sich nicht auch ein wenig Seelenfrieden verschaffen? …
    Warum nicht? Weil es ihn seiner Identität berauben würde. Fünfundsechzig Jahre lang hatte ihn der Gedanke an jene eine Nacht in Hamburg verfolgt, hatte wie eine Last auf ihm gelegen, so dauerhaft und unvermeidlich wie die Schwerkraft, die alles niederdrückte, was in ihren Anziehungsbereich gelangte. Alles, was er seither getan hatte, geschah unter dem Einfluß jenes Ereignisses. Die gesamte Erinnerung daran aus seinem Bewußtsein zu schneiden würde die Hälfte seines Lebens unverständlich und ohne jenen Bezugspunkt erscheinen lassen. Wie ein Fremder würde er durch die rätselhafte Landschaft seines Ichs stolpern.
    Natürlich konnte er auch jedes Gefühl von Unverständnis oder Orientierungslosigkeit aus seinem Gedächtnis löschen. Aber wo würde das Herausschneiden, Löschen, Amputieren enden? Wer oder was wäre am Ende übrig, um sich an dem Seelenfrieden zu erfreuen, den er endlich hergestellt hatte? … Wer würde in seinem Bett den Schlaf des Gerechten schlafen?
    Es gab noch andere Möglichkeiten als die Überarbeitung des Gedächtnisses. Es gab Algorithmen, die ihn rasch und mühelos in einen Zustand freudiger Bejahung seines Schicksals versetzen würden: geläutert, geheilt, eins sein mit sich selbst, mit seiner unverfälschten Vergangenheit. Es wäre nicht nötig, etwas zu vergessen; seine Furcht vor einem gedankenspionierenden Verhör würde zusammen mit allen Schuldneurosen verschwinden.
    Aber er konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden – egal wie glücklich und zufrieden er auch sein mochte, wenn diese Verwandlung erst abgeschlossen wäre. Er war nicht sicher, ob es einen nennenswerten Unterschied zwischen Erlösung und der Illusion von Erlösung gab … doch etwas in ihm wehrte sich – auch wenn er es als Masochismus und Sentimentalität verfluchte – gegen eine so leicht zu erwerbende Instant-Zufriedenheit.
    Annas Mörder war tot! Er hatte seinen Leichnam verbrannt! Was konnte er noch tun, um seine Verbrechen endlich hinter sich zu lassen?
    Als seine Krankheit fortschritt und er auf seinem Sterbebett gelegen hatte – als er jeden Morgen mit dem Gedanken spielte, heute den letzten Scan anzuordnen –, da war er sicher gewesen, daß das Miterleben seines körperlichen Endes dramatisch genug sein würde, um seine alte, modrige und nur noch aus Gewohnheit bestehende Schuld abzuwaschen. Anna war tot, nichts konnte das ändern. Die Reue eines ganzen Lebens hatte sie nicht wieder lebendig machen können. Thomas hatte zu keiner Zeit geglaubt, daß er sich, auf welche Weise auch immer, je frei von Schuld fühlen könnte – aber er hatte mit der Zeit erkannt, daß ihm nur noch eines blieb, um das unerbittliche Pochen in seinem Schädel zum Schweigen zu bringen: der Tod des Mörders selbst.
    Aber der Mörder war nie wirklich gestorben. Die Leiche, die man dem Feuer übergeben hatte, war nichts als eine abgestreifte Hülle. Zwei Tage vor dem letzten Scan hatte Thomas die Fassung verloren und seine frühere Anweisung widerrufen: daß man dem Fleisch-und-Blut -Thomas nach dem Scan erlauben sollte, noch einmal aufzuwachen.
    So war der sterbende Mensch nicht wieder zu Bewußtsein gekommen, hatte dem Tod nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Und es hatte keinen sterblichen Thomas Riemann gegeben, der seine Gewissensbürde dem Feuer überantworten konnte.
     
    Thomas hatte Anna im Sommer 1983 in einem Hamburger Bahnhofscafé kennengelernt. Er war in der Stadt, um für seinen Vater einige Aufträge zu erledigen.

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