Cyberabad: Roman (German Edition)
Geräumigkeit der niedrigen Zwiebelbögen, die Geometrie der azurblauen Dachziegel, die hohen Spitz fenster hinter Textilvorhängen bewundert. Doch der eigent liche Blickfang des Raumes ist nicht die strahlende Harmonie der Innenarchitektur. Es ist auch nicht der Faraday-Käfig, der in mühevoller Kleinarbeit in die Wände eingearbeitet wurde. Es ist der transparente Plastikwürfel, der genau im Zentrum steht. Er ist fünf Meter lang und fünf Meter hoch, ein Haus innerhalb eines Hauses, durch transparente Trennwände aufgeteilt in durchsichtige Räume mit transparenten Installationen und Kabeln und Stühlen und Tischen und einem transparenten Bett und einer transpa renten Toilette. Mitten in dieser Transparenz sitzt ein dunkler, zum Fettansatz neigender Mann mit dichtem Bart. Er trägt eine weiße Kurta, ist barfuß und liest in einem Taschenbuch. Er hat Mr. Nandha den Rücken zugekehrt, aber als er seine Schritte auf dem kühlen Marmor hört, erhebt er sich. Er kneift kurzsichtig die Augen zusammen, dann erkennt er seinen Besucher und zieht den Stuhl an die transparente Wand. Er stupst mit einem Zeh gegen das Taschenbuch mit dem gebrochenen Rücken. Er trägt einen transparenten Zehen-Ring.
»Die Wörter bewegen sich immer noch nicht.«
»Die Wörter müssen sich nicht bewegen. Sie sind es, der von ihnen bewegt werden sollte.«
»Es ist eine sehr effektive Methode, um eine Virtual-Reality-Erfahrung zu komprimieren. Das muss ich zugeben. All das mit nur eins Komma vier Megs? Es ist nur so non-interaktiv ...«
»Aber es ist für jeden anders, der es liest«, sagt Mr. Nandha.
Der Mann im Plastikwürfel nickt nachdenklich. »Wo bleibt da das gemeinsame Erlebnis? Was kann ich also für Sie tun, Mr. Nandha?«
Mr. Nandha blickt auf, als er das Moskitosummen einer Hovercam hört. Sie dreht das Linsenauge auf den Plastikkäfig und steigt dann empor zum phantasievollen Schmuck des Kuppeldachs. Mr. Nandha zieht die Beweisbeutel aus der Jackentasche und hält sie hoch. Der Mann auf dem Plastikstuhl blinzelt.
»Sie müssen sie näher heranbringen. Ohne meine Brille kann ich nichts erkennen. Sie hätten sie mir lassen sollen.«
»Nicht nach dem letzten Mal, Mr. Anreddy. Die Elektronik war äußerst genial.«
Mr. Nandha drückt die Beutel gegen die Plastikwand. Der Gefangene kniet nieder. Mr. Nandha sieht, wie sein Atem die Transparenz beschlägt. Er keucht leise und unterdrückt auf.
»Woher haben Sie die?«
»Von ihren Besitzern.«
»Also sind sie tot.«
»Ja.«
J. P. Anreddy ist ein kleiner, plumper Asthmatiker Mitte zwanzig mit zu wenig Haar auf dem Kopf und viel zu viel davon auf den weichen Wangen, und er ist Mr. Nandhas größter professioneller Triumph. Er war ein Datenraja des Sinha-Sundarban, eine wichtige Station an der Kaih-Untergrundbahn, als Awadh die Hamilton-Gesetze ratifizierte und sämtliche künstliche Intelligenz oberhalb der Stufe 2,0 für illegal erklärte. Er machte eine astronomische Summe Geld mit der Umfirmierung von Kaihs, die er herunterstufte und denen er gefälschte Lizenzidentitäten verpasste. Fusionen von Mensch und Maschine waren seine Jugendsünde gewesen, eine Erweiterung seiner einhundertfünfzig Kilo, die überwiegend aus mittlerem Körperfett bestehen, um schlankere, beweglichere Roboterkörper. Als Mr. Nandha ihn wegen Vergehen gegen das Lizenzrecht verhaftete, hatte er sich einen Weg durch mehrere Staffeln von Servicerobotern gebahnt. In seiner Erinnerung verschmelzen die klickenden Plastikpeds mit den kleinen schwarzen Affenhänden, die seinen Ministeriumswagen bedrängt haben. Mr. Nandha erschaudert im hellen, warmen, nach Staub duftenden Raum. Er hatte den Datenraja durch seine Suite gehetzt, bis Indra sich in die Proteinmatrix-Chips an der Unterseite seines Schädels eingeklinkt hatte, mit denen Anreddy direkt auf seine maschinellen Erweiterungen zugreifen konnte, um sie alle mit einem einzigen EM-Puls durchbrennen zu lassen. J. P. Anreddy hatte drei Monate lang im Koma gelegen und fünfzig Prozent seiner Körpermasse verloren. Als er wieder zu Bewusstsein kam, hatte er festgestellt, dass sein Haus per Gerichtsbeschluss konfisziert und in sein persönliches Gefängnis verwandelt worden war. Jetzt lebte er im Zentrum seiner wunderschönen Mughal-Architektur in einem transparenten Plastikwürfel, wo jede Bewegung, jeder Atemzug, jeder Bissen, jedes Kratzen, jeder Floh und jede Fliege von den Hovercams überwacht werden konnte. Zweimal hatte er mit Hilfe von insektengroßen
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