Cyberabad: Roman (German Edition)
aus. An den meisten Tagen kann ich die Indische Braune Wolke erkennen, ich sehe, wie der Wasserstand fällt, ich sehe Skelette am Strand, aber sie machen mir keine Angst. Es sind diese schrecklichen Kinder, diese Brahmanen, wie man sie nennt. Wer auch immer ihnen diesen Namen gegeben hat, wusste über ein paar Dinge Bescheid. Ich sage, was Nanak daran so große Angst macht. Es geht nicht darum, dass sie doppelt so lange und halb so schnell leben wie wir oder dass sie Kinder mit den Rechten und Bedürfnissen von Erwachsenen sind. Was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass wir ein Stadium erreicht haben, in dem Reichtum den Lauf der menschlichen Evolution verändern kann. Du könntest viele Lakh Geld erben, deine Kinder auf amerikanische Schulen schicken, wie es all die inzüchtigen, geistig beeinträchtigten Maharajahs tun, aber du könntest dir keinen IQ oder Begabungen oder auch nur ein gutes Aussehen kaufen. Alles, was du tun könntest, wäre reine Kosmetik. Aber mit diesen Brahmanen kann man sich eine neue Infrastruktur kaufen. Eltern hatten schon immer den Wunsch, ihren Kindern Vorteile zu verschaffen, und nun können sie es ihnen für alle folgenden Generationen geben. Und welche Eltern würden sich so etwas nicht für ihre Kinder wünschen? Der Mahatma, sein Angedenken sei gesegnet, war in vielerlei Hinsicht sehr weise, aber er hat nie größeren Unsinn von sich gegeben, als mit der Aussage, dass das Herz Indiens in den Dörfern schlägt. Das Herz und der Kopf Indiens war schon immer die Mittelklasse. Den Briten war das klar, und deshalb konnte eine Handvoll von ihnen uns hundert Jahre lang beherrschen. Wir sind eine offensiv bürgerliche Gesellschaft, es geht um Vermögen, Status, Anstand. Jetzt ist all das direkt vererbbar geworden, es ist in den Genen. Du kannst dein ganzes Geld an der Börse verlieren, bankrottgehen, es verspielen, durch eine Flut ruiniert werden, aber niemand kann dir deine genetischen Vorteile nehmen. Es ist ein Vermögen, das kein Dieb stehlen kann, ein Erbe, das ohne Verlust an die Nachkommen weitergegeben wird ... Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht.«
»Nanakji«, sagt Thal, »du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Das hat nichts mit uns zu tun. Wir sind ausgestiegen.« Ys spürt, wie ys unter sys Berührung erstarrt.
»Aber das sind wir nicht, Baba. Niemand kann das. In diesem Konflikt gibt es keine Nichtkombattanten. Wir haben unser schönes Leben und unsere kleinen niederschmetternden Herzensprobleme, aber wir sind immer noch Menschen. Wir sind ein Teil des Ganzen. Nur dass wir jetzt untereinander entzweit werden. Wir werden uns gegenseitig an die Gurgel gehen, weil die Zukunft unserer Kinder auf dem Spiel steht. Das Einzige, was die Mittelklasse von den Jahrzehnten der Verlorenen Frauen gelernt hat, ist, wie leicht es ist, eine neue Kaste zu schaffen, und wie sehr wir es lieben, vor allem, wenn das Bindi jetzt in der DNS steckt. Das wird uns tausend Jahre lang beherrschen, dieser genetische Raj.«
Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Thal spürt kühle Luft auf einer unerwarteten Hautstelle. Ys erschaudert, ein winziges Wesen auf einem riesigen Kontinent, das eine Zukunft ahnt, in der ys keinen Platz mehr haben wird als Ausgestiegenes, als genetischer Nichtkombattant.
Ein australischer Akzent ruft von unten. »Einen guten Abend dir da oben, Nanakji! Regen in Hyderabad, habe ich soeben gehört.«
Nanak erhebt sich halbwegs aus dem duftenden Wasser, aber der Rufer in der Nacht bleibt unsichtbar. »In der Tat eine gute Neuigkeit!«, antwortet ys. »Das werden wir auf jeden Fall feiern.«
»Darauf trinke ich einen!«
Ein leises Geräusch von der Luke zur Hauptbrücke ist zu hören. Die Badenden drehen sich um. Hinter ihnen steht ein Neut, in einen kurzen blauen Yukata gehüllt, die Arme um den Oberkörper geschlungen.
»Ich habe gehört ... ich dachte ... könnte ich?«
»Hier sind alle willkommen«, sagt Nanak und kramt in der Kühlbox nach einem Kingfisher.
»Ist es wahr? Kommt der Regen wirklich?«, fragt das Neut, als ys aus dem blauen Baumwoll-Bademantel schlüpft. Thal verspürt einen kalten Schock, als ys die schmalen Schultern und die breiten gebärfreudigen Hüften sieht, die von Hormoninjektionen abgeflachten Brustknospen, das heilige Dreieck der rasierten Yoni. Mitten in der Prä-OP. Das schüchterne Neut, von dem Nanak gesagt hatte, dass ys ausreißen könnte. Ys versucht sich an die drei Jahre zu erinnern, die ys in der Prä-OP gelebt
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