Cyberabad: Roman (German Edition)
sie und ist mit ihrem Buch beschäftigt. Ihr Assistent, ein alter magerer Mann, schnappt sich das Bargeld und wirft Wettscheine über den polierten Holztresen. Der Ausrufer springt von seinem Hochsitz und läuft in den Ring, um den nächsten Kampf anzusagen. Heute ist er als Pierrot verkleidet.
»Nein, aber ich«, sagt eine Stimme plötzlich und nahe hinter ihr. Sie dreht sich um. Der Mann beugt sich über die Rückenlehne der Bank. Er ist in schwarzes Leder gekleidet. Najia kann es riechen: rauchig und sinnlich. Der düstere Junge aus dem Mercedes ist neben ihm: gleiches Hemd, gleiches Grinsen, gleiche Perlenkette. Der Mann hält einen braunen A4-Umschlag hoch. »Das ist für Sie.« Er hat dunkle, flüssige Augen, hübsch wie die eines Mädchen. Solche Augen vergisst man nicht wieder, und Najia weiß, dass sie sie schon einmal gesehen hat. Aber sie zögert, den Umschlag anzunehmen.
»Wer sind Sie?«
»Ein bezahlter Handlanger«, sagt der Mann.
»Wissen Sie, was das ist?«
»Ich liefere es nur aus. Aber ich weiß, dass alles, was sich darin befindet, echt ist und sich verifizieren lässt.«
Najia nimmt den Umschlag entgegen und öffnet ihn. Die Hand des Mercedes-Jungen streicht über die Öffnung und hält ihre zurück.
»Nicht hier«, sagt der Mann.
Najia schiebt den Umschlag in ihre Schultertasche. Als sie sich wieder umdreht, ist niemand mehr hinter ihr. Sie möchte unbedingt die Frage stellen: Warum ich? Aber der Mann mit den hübschen Augen hätte auch darauf keine Antwort gehabt. Sie hängt sich die Tasche über die Schulter und schlängelt sich durch die dichte Menge, während der Ausrufer auf dem Kampfplatz herumstapft und sein Drucklufthorn ertönen lässt und »Wettet! Wettet!« brüllt. Sie erinnert sich, woher sie diese Augen kennt. Sie sind sich aus dieser Perspektive begegnet, sie am Galeriegeländer, er in der Satta-Arena.
Zurück aufs Moped, hinaus in den Verkehr. Heute wirkt die Stadt nahe, bedrohlich, mit Messern bewaffnet. Die Autos und Laster wollen sie unter die Räder nehmen. Der Verkehr staut sich um eine Kuh, die mitten auf der Straße lang und ausgiebig pisst. Najia öffnet den Umschlag und zieht das obere Drittel des ersten Fotos heraus. Dann zieht sie es halb heraus. Dann ganz. Dann schüttelt sie das nächste Foto heraus. Dann das nächste. Dann das nächste.
Die Kuh ist weitergezogen. Lieferwagen hupen, Fahrer rufen, winken und schleudern ihr wilde Flüche entgegen.
Und das nächste. Und das nächste. Dieser Mann. Dieser Mann ist. Dieser Mann, sie erkennt ihn wieder, obwohl er sein Gesicht gut vor den Kameras versteckt hat. Dieser Mann ist angeblich die treibende Kraft hinter Sajida Rana. Ihr Privatsekretär. Wie er Geld gibt. Bargeld in einem dicken Bündel. Einem Neut. In einem Club. Shaheen Badoor Khan.
Die gesamte Straße blickt auf sie. Ein Polizist kommt mit erhobenem Lathi auf sie zu. Mit pochendem Herzen stopft Najia Askarzadah die Fotos zurück in den Umschlag, dreht am Gashebel und fährt mit tuckerndem Alkoholmotor davon. Shaheen Badoor Khan. Shaheen Badoor Khan . Ihre Amygdala steuert sie durch den hupenden, giftigen Verkehr, während sie das Geld sieht, das Apartment am Flussufer in New Sarnath, die Noo-Outfitz und Partyz und den Champagner, der kein Omar Khayyam ist, und die Interviews und den Namen in den Schlagzeilen, bharatweit, indienweit, asien weit, planetenweit, und im fernen kühlen netten Schweden schlagen ihre Eltern die Dagens Nyheter auf und sehen ein Foto ihrer Lieblingstochter in den Auslandsmeldungen.
Sie hält an. Ihr Herz schlägt arhythmisch, zuckend, aufgeregt. Wie von Koffein, Schock, Wahnsinnssex, Freude. Wenn man alles bekommt, was man sich je gewünscht hat. Sie kann sehen. Sie kann hören. Sie kann spüren. Ein Wirbel aus Lärm und Farben stürmt auf sie ein. Es gibt keinen anderen Ort, zu dem ihr Vorbewusstsein sie hätte bringen können als zum Herzen von Bharats Verrücktheiten und Widersprüchlichkeiten. Zum Sarkhand Roundabout.
Nichts mit Rädern und Motor gelangt über diese Kreuzung. Die strahlenförmig angelegten Straßen sind wie entzündete Arterien angeschwollen, mit Zeltstädten und Lastwagenburgen, glänzend in der gelben Straßenbeleuchtung und dem Schein von Schreinen auf den Gehwegen. Najia stellt die Füße auf den Boden und schiebt ihr kleines Motorrad in die Randbereiche, angezogen vom großartigen Chaos. Die rotierende Farbenwand, die sie durch das Gewirr aus Lastern und Plastikwänden erkennt, ist ein Kreis aus
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