Cyberabad: Roman (German Edition)
Menschen, die springen und singen, während sie um die bunt bemalte Betonstatue von Ganesha kreisen. Manche halten Plakate, andere Lathis, die über ihren Köpfen wanken und hüpfen wie ein Wald aus Bambusrohr im Wind des Vormonsuns. Manche tragen Dhotis und Hemden, andere westliche Hosen oder gar Anzüge. Manche sind nackt, mit Asche eingeriebene Sadhus. Eine Gruppe von Frauen in Rot, Anhängerinnen Kalis, eilt vorbei. Alle sind unbewusst in einen rhythmischen Gleichschritt verfallen. Einzelne Leute wirbeln heraus oder herein, aber das Rad dreht sich endlos weiter. Der Luftzylinder zwischen den Gebäuden am Platz pulsiert wie eine Trommel.
Ein riesiges Objekt in Rot und Orange walzt in Najias Blickfeld: eine Rath Yatra wie jene, die sie an der Industrial Road gesehen hat. Vielleicht dieselbe. N. K. Jivanjees Triumphwagen Shivas. Sie schiebt ihr Moped weiter hinein. Der synkopierte Gesang ist eine wahnsinnige Jubelhymne. Sie spürt, wie sich ihr Atem und ihr Puls dem Rhythmus des Tanzes anpassen, wie sich ihre Gebärmutter zusammenzieht und sich ihre Brustwarzen verhärten. Sie ist jetzt Teil des Wahnsinns. Er definiert sie. Es ist genau die Gefahr und Unvernunft, die sie als Gegengift für ihre schwedische Nüchternheit gesucht hat. Es sagt ihr, dass es immer noch ein lohnenswertes Leben voller Überraschungen ist. Gerippt und aufregend! Kordhosen! , erklärt eine große gelbe Reklametafel über der verrückten Mela.
Ein Karsevak mit vorstehenden Zähnen drückt ihr einen A5-Zettel in die Hand.
»Lies lies! Dämonen greifen uns an, sexbesessene Kinderschänder!«, ruft er. Der Flyer ist vorn in Hindi bedruckt, auf der Rückseite in Englisch. »Unsere politischen Führer sind die Leibeigenen von Bibelchristen und Dämonischen Mohammedanern! Die Gründer von Mata Bharat! Lies diesen Flyer!«
Auf dem Zettel ist eine Zeichnung von Sajida Rana abgedruckt, die sie als Schattenspielpuppe zeigt, wie sie in ihrem Designer-Kampfanzug tanzt, und die Stäbe werden von einem hakennasigen karikierten Araber mit rot-weißem Shumagg gehalten. Auf seiner Ogal steht Badoor-Khan . Rana weist einem amerikanischen Televangelisten den Weg, der mit aufgerichteter Zigarre im Mund auf einem großen Bulldozer sitzt und auf eine Hindu-Mutter mit Kind zufährt, die im Schatten der Ratten-Vahana eines erzürnten Ganesha hockt, der kampfbereit den Rüssel und eine Axt erhoben hat.
Kinderschändende pädophile Muslime planen die Kapitulation vor der Coca-Cola-Kultur! Erst stehlen sie das Wasser von Mutter Ganga, dann Sarkhand, dann das Heilige Bharat. Eure Nation, eure Seele ist in Gefahr!
Sie hassen ihn, denkt Najia Askarzadah, die immer noch von der geballten menschlichen Energie zittert. Sie hassen ihn mehr als alles, was ich mir vorstellen kann. Und ich kann ihn an sie ausliefern. Ich kann ihnen geben, was sie wollen, den tiefsten, brutalsten Sturz. Ein kinderschändender Pädophiler? Nein, viel, viel schlimmer: Er liebt Wesen, die weder männlich noch weiblich sind. Monstren. Neuts. Ein Unmann.
Ein Lichtblitz, lodernde gelbe Flammen und donnernder Applaus von der wimmelnden Menge. Sie erkennt eine brennende Awadh-Fahne, die sich wie eine Seele im Feuer windet. Sie könnte einen Finger heben und all die Zukünfte in unbekannte Dimensionen verbannen. Sie hat sich nie zuvor so lebendig gefühlt, so stark, so mächtig und so launenhaft. Ihr ganzes Leben lang war sie die Außenseiterin, das Flüchtlingskind, die Asylsuchende, die afghanische Schwedin, die dazugehören wollte, zum Ganzen, zum Herzen, zum Blut. Sie spürt eine berauschend warme Feuchtigkeit am Vinyl des Mopedsattels.
25 Shiv
Shiv und Yogendra fahren durch einen Klangzylinder. Construxx rühmt sich einer Gruppe von Architektursachverständigen, die den Dschungel der Baugebiete von Varanasi und Ranapur durchstreifen und nach den besten prä- und postindustriellen Gebäuden absuchen. Die Marktlücke von Construxx sind die kurzen Einbrüche in den Cashflow-Bilanzen. Im letzten Monat waren es die Penthouse-Ebenen des Narayan Tower im Westen von Varauna: achtundachtzig Stockwerke vermietbarer formflexibler Büroräume, vier Mietparteien. In diesem Monat ist es der riesige Betonschacht, der, wenn das Geld nach dem Krieg wieder fließt, zur Metrostation »Universität« werden soll. Construxx ist bekannt für gewaltige Bauten und Mundpropaganda. Wenn man sie finden will, muss man die richtigen Leute an den richtigen Stellen fragen.
Lage der Construxx -Baustelle August 2047: Nimm
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