Cyberabad: Roman (German Edition)
die Haare schneiden lassen, und erst nachdem sie den kurzen Bubikopf betastete, wurde ihr klar, dass ihre Frisur jetzt dem Bild des Tabernakels entsprach. Das Siegel der Prophezeiung. Sie kaufte mitten im Monsun eine Flasche Mineralwasser und die leichte, nützliche Feuchtkleidung und ließ mehrere Dutzend Fotos von Thomas Lull aus dem Datenblock – den sie für sich nur noch ihre Lade nennt – in einem Copyshop ausdrucken, der sich hinter einen mit roten und orangefarbenen Brahmanenschnüren behangenen Pipalbaum zwängte. Dann begann sie mit ihren Nachforschungen.
Der Rikschafahrer sah aus wie zwölf. Lisa glaubte nicht, dass ein so dürrer Junge in der Lage war, einen Passagier zu befördern, aber er blieb ihr drei Blocks lang auf den Fersen und rief immer wieder »Hallo, hallo Lady«, während sie sich zwischen den Regenschirmen hindurchschlängelte. Sie drehte sich zu ihm um, wo sich die Straße vor dem Tor zum Fort verengte.
»Sprichst du Englisch?«
»Indisch, Amerikanisch oder Australisch, Lady?«
»Ich brauche Jungen, die Englisch sprechen.«
»Es gibt viele solche Jungen, Lady.«
»Hier sind hundert Rupien. Komm in einer halben Stunde mit so vielen Jungen zurück, wie du auftreiben kannst, zu diesem Chai-Stand, und dann bekommst du noch einmal zweihundert. Ich brauche Jungen, die Englisch können und die alles und jeden kennen.«
Er stopfte die Banknote in eine Tasche seiner Adidas-Hose und antwortete mit dem Kopfwackeln, von dem Lisa gelernt hatte, dass es Zustimmung bedeutete.
»He! Wie heißt du?«, rief sie, als er sich mit melodischem Klingeln in den Verkehrsfluss einfädelte. Er warf ihr ein Grinsen zurück, während er durch das wirbelnde Wasser strampelte.
»Kumarmangalam.«
Lisa Durnau machte es sich im Chai-Laden bequem und surfte die halbe Stunde durch Alterre. Bei zwanzigtausend Jahren pro Stunde war eine Woche buchstäblich ein Zeitalter. Eine Algenblüte im Biom 778 im Ostpazifik hatte ein selbsterhaltendes ozeanisches Mikroklima entstehen lassen, das einen Wind erzeugte, der umgekehrt, aber ähnlich wie El Niño auf der Realerde wehte. Die Bergnebelwälder starben allmählich ab. Das vielschichtige symbiotische Ökosystem aus blühenden Bäumen, bestäubenden Kolonievögeln und komplexen Sauroiden-Gemeinschaften in den Baumwipfeln löste sich auf. Innerhalb weniger Tage würden ein Dutzend Spezies und ein System von seltener, ausbalancierter Schönheit ausgestorben sein. Lisa war klar, dass sie sich der Buddha-Natur von Alterre bewusst sein sollte. Es waren lediglich virtuelle Spezies, die um Speicherplatz und Rechnerleistung und mathematische Parameter in elf Millionen Host-Computern konkurrierten, aber sie trauerte um jede einzelne, die unterging. Sie hatte die physische Möglichkeit der Realität dieser Cybererde irgendwo im postexpansiven Polyversum bewiesen. Es war realer Tod, reale Auslöschung, für immer real.
Bis jetzt. In einem keralesischen Chai-Laden kam es ihr wie ein Spiel, wie Spielzeug vor. Eine Freakshow im Taschenformat. Auf dem großen Flachbildschirm lief eine Soap. Alle Blicke waren darauf gerichtet. Sie hatte gelesen, dass nicht nur die Figuren von Kaihs generiert wurden, sondern auch die Schauspieler, die sie darstellten. Ein gigantisches Lügengebäude drohte das Drama zu erdrücken, wie die großen überzuckerten Türme, die die Tempelarchitektur der Drawiden dominierten. Es gibt nicht nur eine Cybererde, erkannte sie. Es gibt Tausende.
Kumarmangalam war pünktlich nach einer halben Stunde wieder da. Das war etwas, das ihr allmählich über diese fremdartige Welt klar wurde. Sie war nur oberflächlich chaotisch. Dinge wurden erledigt, ordentlich erledigt. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Leute für einen die Taschen trugen, die Kleidung wuschen oder sich auf die Suche nach einem früheren Liebhaber machten. Die Straßenjungen zwängten sich in den Chai-Laden. Der Besitzer bedachte die Frau aus dem Westen mit strengen Blicken. Die anderen Gäste rückten mit ihren Stühlen zur Seite und beklagten sich, dass sie den Fernseher nicht mehr hören konnten. Kumarmangalam stand neben Lisa und brüllte verschiedenen Jungen etwas zu, und sie schienen ihm sogar zu gehorchen. Er hatte bereits die Rolle ihres Feldwebels übernommen. Wie Lisa vermutet hatte, beherrschten die meisten höchstens ein Guten-Tag-danke-auf-Wiedersehen-Englisch, aber sie fächerte trotzdem die Fotos von Thomas Lull auf dem Tisch aus.
»Eins für jeden«, wies sie Kumarmangalam an.
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