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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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Die Menschen strecken die Hände durch den yonischen Schlitz, um Räucherstäbchen zu entzünden oder Trankopfer aus Milch, Blut oder rot gefärbtem Ghee darzubringen. Die durstige Kali verlangt jeden Tag sieben Liter Blut. In kultivierten urbanen Zentren wie Mirzapur stammt es heutzutage von Ziegen. Vishrams Blick trifft den der Göttin, deren Augen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen, die jede Illusion durchschauen. Darshan. Die Brandung der Menschen treibt ihn weiter. Donner erschüttert den Tempel. Der Monsun hat den Westen erreicht. Die Hitze ist maßlos. Glocken werden geschlagen. Die Anhänger der Göttin singen Hymnen.
    Vishram findet seinen Vater in einem schwarzen fensterlosen Nebentempel. In der Finsternis wäre er fast über ihn gestolpert. Vishram streckt die Hände aus, um sich abzustützen, zieht sie sofort wieder vom Sims zurück. Sie sind feucht. Blut. Der Boden ist mit einer Ascheschicht bedeckt. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er eine rechteckige Grube mitten im Raum. Smasana-Kali ist auch die Göttin der Ghats. Dies ist ein Kremationshaus. Ranjit Ray hockt im Schneidersitz in der Asche. Er trägt den Dhoti, den Schal und die rote Kali-Tilaka des Sadhu. Seine Haut ist grau von Vibhuti, die heilige weiße Asche bedeckt sein Haar und die Bartstoppeln. Für Vishram ist dies nicht sein Vater, sondern ein Wesen, das man neben einem Straßenschrein sitzen sieht, das sich nackt in einem Tempeleingang ausstreckt, ein Alien aus einer fremden Welt.
    »Vater?«
    Ranjit Ray nickt. »Vishram. Setz dich, setz dich.«
    Vishram blickt sich um, aber hier ist überall Asche. Wahrscheinlich ist es sehr weltlich, sich wegen seines Anzugs Sorgen zu machen. Andererseits ist er weltlich genug, um zu wissen, dass er sich einen neuen besorgen kann. Er setzt sich neben seinen Vater. Donner erschüttert den Tempel. Die Glocken tönen, die Gläubigen beten.
    »Vater, was machst du hier?«
    »Die Puja für das Ende eines Zeitalters.«
    »Hier ist es schrecklich.«
    »So soll es auch sein. Aber das Auge des Glaubens sieht anders, und mir kommt es gar nicht so schrecklich vor. Es ist richtig. Passend.«
    »Zerstörung?«
    »Transformation. Tod und Wiedergeburt. Das Rad dreht sich.«
    »Ich kaufe Ramesh seinen Anteil ab«, verkündet Vishram, der barfuß in der Asche der Toten hockt. »Damit habe ich die Firma zu zwei Dritteln unter Kontrolle und kann Govind und seine westlichen Partner vergraulen. Ich frage dich nicht, ich sage es dir.«
    Vishram sieht eine Spur der alten Weltlichkeit in den Augen seines Vaters aufflackern.
    »Ich bin mir sicher, dass du dir denken kannst, woher ich das Geld habe.«
    »Von meinem guten Freund Chakraborty.«
    »Du weißt, wer – beziehungsweise was – hinter ihm steht?«
    »Ja.«
    »Wie lange weißt du es schon?«
    »Von Anfang an. Odeco nahm Kontakt mit mir auf, als wir das Nullpunktprojekt starteten. Chakraborty war bewundernswert direkt.«
    »Es war ein verdammt großes Risiko. Wenn die Krishna Cops es herausgefunden hätten ... Ray Power, Energie mit gutem Gewissen, Respekt vor der Erde und all das?«
    »Darin sehe ich keinen Widerspruch. Es sind lebende Geschöpfe, intelligente Geschöpfe. Wir sind es ihnen schuldig, sie fürsorglich zu behandeln. Einige Vertreter der Grameen-Banken ...«
    »Geschöpfe. Du hast sie als Geschöpfe bezeichnet.«
    »Ja. Es scheint drei Kaihs der Generation Drei zu geben, aber ihre subjektiven Universen müssen sich nicht zwangsläufig überlappen, auch wenn sie vielleicht einige Subroutinen gemeinsam haben. Ich glaube, Odeco ist für mindestens zwei von ihnen ein Kommunikationskanal.«
    »Chakraborty bezeichnete die Odeco-Kaih als Brahma.«
    Ranjit Rays Gesicht zeigt ein dezentes wissendes Lächeln.
    »Bist du Brahma jemals begegnet?«
    »Vishram, welchem Aspekt hätte ich begegnen sollen? Ich bin Männern in Anzügen begegnet, ich habe mit Gesichtern telefoniert. Vielleicht waren die Gesichter real, vielleicht waren sie Brahma, Manifestationen dieses Wesens. Kann man auf sinnvolle Weise einer dezentralisierten Entität begegnen?«
    »Haben sie dir jemals gesagt, warum sie das Nullpunktprojekt finanzieren wollen?«
    »Du würdest es nicht verstehen. Ich verstehe es nicht.«
    Blitze erhellen für einen Moment das Innere der Kremationskammer. Der Donner folgt hart und schwer. Seltsame Windböen wirbeln die Asche auf.
    »Sag es mir.«
    Vishrams Palmer klingelt. Verärgert zieht er eine Grimasse. Die Gläubigen starren ihn an,

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