Cyberabad: Roman (German Edition)
empört über die lästerliche Störung im Allerheiligsten. Ein Anruf höchster Priorität. Vishram stellt auf nur Audio. Nachdem Marianna Fusco verstummt ist, steckt er das kleine Gerät in eine Innentasche.
»Vater, wir müssen jetzt gehen.«
Ranjit Ray runzelt die Stirn. »Ich verstehe nicht, was du sagst.«
»Wir müssen sofort aufbrechen. Hier ist es nicht mehr sicher. Die Awadhis haben den Kunda-Khadar-Damm besetzt. Unsere Soldaten haben kapituliert. Zwischen ihnen und Allahabad ist der Weg frei. Sie könnten in vierundzwanzig Stunden hier sein. Vater, du musst mitkommen. Im Flugzeug ist genügend Platz. All das muss jetzt aufhören. Du bist ein bedeutender Mann von internationalem Ruf.«
Vishram steht auf und streckt seinem Vater eine Hand entgegen.
»Nein, ich werde nicht mitkommen und mich wie eine altersschwache Witwe von meinem eigenen Sohn herumkommandieren lassen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, ich bin fortgegangen, und ich werde nicht mehr zurückkehren. Ich kann nicht mehr zurück, denn dieser Ranjit Ray existiert nicht mehr.«
Vishram schüttelt verzweifelt den Kopf. »Vater.«
»Nein. Mir wird nichts geschehen. Das Bharat, das sie besetzt haben, ist nicht mehr das, in dem ich lebe. Sie können mich nicht erreichen. Geh. Na los, geh schon.« Er stößt gegen die Knie seines Sohns. »Es gibt wichtige Dinge, die du tun musst. Also geh. Dir darf nichts geschehen. Ich werde für dich beten, du wirst in Sicherheit sein. Jetzt geh.« Ranjit Ray schließt die Augen, sein Gesicht wird blind und taub.
»Ich werde zurückkommen ...«
»Du wirst mich nicht finden. Ich will nicht gefunden werden. Du weißt, was du tun musst.« Als Vishram sich unter dem blutbeschmierten Türsturz duckt, ruft sein Vater ihm hinterher: »Ich wollte es dir sagen. Was sich Odeco, Brahma, die Kaih vom Nullpunktprojekt erhoffen. Einen Ausweg. Irgendwo dort draußen in all den Mannigfaltigkeiten der M-Stern-Theorie gibt es ein Universum, wo sie und ihresgleichen existieren können, wo sie frei und sicher leben können, wo wir sie nie finden werden. Und das ist der Grund, warum ich hier in diesem Tempel bin. Weil ich Kalis Gesicht sehen möchte, wenn ihr Zeitalter zu Ende geht.«
Der Regen fällt gleichmäßig, als Vishram den Tempel verlässt. Der Marmor ist glitschig von Wasser und Staub. Auf den schmalen Wegen rund um den Tempel drängen sich immer noch die Menschen, aber die Stimmung hat sich verändert. Es ist nicht mehr der Eifer religiöser Verehrung, aber auch nicht die gemeinsame Jubelfeier, weil es endlich über der ausgedörrten Stadt regnet. Die Nachricht über die Demütigung von Kunda Khadar hat sich verbreitet, und in den Galis wimmelt es von Brahmanen und Witwen in Weiß und Kali-Verehrern in Rot und wütenden jungen Männern in Markenjeans und sehr frischen Hemden. Sie starren auf Fernsehbildschirme oder reißen Papierstreifen aus Druckern oder sammeln sich um Rikscha-Radios oder Jungen, die mit ihren Palmern die jüngsten Neuigkeiten abrufen. Der Lärm in den Straßen steigert sich, als die Nachrichten sich zu Gerüchten und weiter zu Falschinformationen und Slogans verdünnen. Die tapferen Jawans von Bharat besiegt. Der Ruhm Bharats wurde in den Schmutz getreten. Awadhi-Divisionen fahren bereits auf der Ringstraße um Allahabad. Eine Invasion des heiligen Bodens. Wo ist die Rettung? Wer wird Rache nehmen? Jivanjee Jivanjee Jivanjee! Krieger-Karsevaks marschieren los, um die Invasoren mit einer Flutwelle aus ihrem eigenen Blut fortzuschwemmen. Die Shivaji wird die Schande der Ranas wiedergutmachen.
»Wo ist dein Vater?«
Rikscha-Fahrer schieben sich um Vishram herum, als er seine Schuhe anzieht.
»Er will nicht mitkommen.«
»Damit habe ich auch nicht gerechnet, Mr. Ray.« Seltsam, diese Worte von Shastri zu hören. Mister und Ray.
»Dann schlage ich vor, dass wir von hier verschwinden, weil ich mich plötzlich sehr weiß und sehr westlich und sehr weiblich fühle«, sagt Marianna Fusco. Über die steilen Gehwege strömen tückische Sturzbäche. »Warum muss bei euch alles in einem Volksaufstand enden?«, fragt Marianna Fusco, aber die Stimmung auf den Straßen ist hart, hässlich, ansteckend. Vishram sieht den Senkrechtstarter am Ufer zwischen den überhängenden Gebäuden. Hinter ihm ein Krachen, Stimmen in panischer Lautstärke. Er dreht sich um und sieht einen Samosa-Wagen aus Blech, der auf die Seite gekippt ist, und die würzigen Dreiecke haben sich über die Gali verteilt. Heißes Öl
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