Cyberabad: Roman (German Edition)
Zimmer war unsauber. Die Minibar war leer. Eine Damenbinde hatte sich in der Toilettenschüssel verkeilt. Die Stockwerke und Balkone waren voller Nachrichtenreporter. Sie probierte die Dusche aus, der alten Zeiten wegen.
Eine zweite Person war unter Lulls Anmeldung registriert. Ajmer Rao. Mit der Lade rief sie einen schlecht aufgelösten Schnappschuss der Lobbycam auf. Von ihr. Vom Space-Bunny. Kleiner, als Lisa sich vorgestellt hatte. Recht breiter Arsch, aber daran war vielleicht der Kamerawinkel schuld. Was hatte sie auf der Stirn?
Ajmer Rao. Aber Lisa Durnaus erster Gedanke war, dass sie froh war, dass Lull nicht mit ihr schlief. Und Lull selbst. Magerer. Das Gesicht weicher. Absolut unmögliche Kleidung. Fortgeschrittene Halbglatze, zum Ausgleich langes Haar am Hinterkopf. In jeder Einzelheit so, wie sie ihn in den wimmelnden Pixeln des Tabernakels gesehen hatte.
Lisa Durna beobachtet den Regen und stellt fest, dass sie wütend ist. Zutiefst. Ihr ganzes Leben lang hat sie gegen die calvinistische Prädestinationsdoktrin ihres Vaters angekämpft, doch die Tatsache, dass sie nun sieht, wie der Monsun auf Varanasi niedergeht, ist das Ergebnis karmischer Mächte, die sieben Milliarden Jahre alt sind. Sie, Lull, dieses Mädchen mit dem Breitarsch, sie alle folgen einem Drehbuch, das genauso vorherbestimmt und fatalistisch ist wie irgendeine Episode von Stadt und Land . Sie ist wütend, weil sie dem nie entkommen ist. Die komplexen Verhaltensmuster des Alterre-Universums, ihrer Calabi-Yau-Geisträume, der zellularen Automaten, die über ihren Monitor wuseln – alle beruhen auf einfachen, gnadenlosen Regeln. Regeln, die so einfach sind, dass man vielleicht nie auf die Idee kommt, von ihnen beherrscht zu werden.
Sie klinkt sich in Alterre ein. Aus Spaß gibt sie ihre gegenwärtigen GPS -Koordinaten ein, an die Kontinentaldrift angeglichen, schaltet auf vollständige Tiefenwahrnehmung und tritt mitten in die Hölle. Sie steht auf einer zerklüfteten Ebene aus schwarzer Lava, die von rot glühenden Adern durchzogen ist. Der Himmel ist eine geronnene Masse aus Rauch, von zuckenden Blitzen erhellt, und um sie herum fällt Asche wie Schnee zu Boden. Sie erstickt fast am Schwefel und den Brandgasen, schaltet die Geruchswahrnehmung aus. Die Ebene erhebt sich sanft zu einer Kette niedriger Kegel, aus denen sich schnell fließende Magmaströme ergießen. Funkenkaskaden versperren den Blick zum Horizont. Sie kann in jede Richtung zwanzig Kilometer weit sehen, und nirgendwo erkennt sie auch nur ein einziges Lebewesen.
Erschrocken blinzelt sich Lisa Durnau zurück ins verregnete Varanasi. Ihr Herz rast, ihr ist schwindlig. Es ist, als würde man um eine Straßenecke gehen und ohne Vorwarnung auf Ground Zero stoßen. Sie steht unter physischem Schock. Sie hat Angst vor der Geste, mit der sie sich wieder nach Alterre wünschen kann. Sie öffnet den Fenstermodus. Der Kommentartext erklärt ihr, dass die Vulkane des Dekkan-Trapps ausgebrochen sind.
Eine halbe Million Kubikkilometer Lava strömen aus einem Magmaplume, der durch den Erdmantel hochkocht, an einer Stelle, an der sich fünfundsechzig Millionen Jahre später die Insel Réunion befindet. Der Mount St. Helens spuckte lediglich einen einzigen Kubikkilometer aus, als er den Pazifischen Nordwesten erschütterte. Eine halbe Million Mount St. Helens. Wenn man sie ensprechend verteilte, würden sie die Bundesstaaten Washington und Oregon zweitausend Meter hoch mit flüssigem Basalt überfluten. Der Dekkan-Trapp bildete eine zwei Kilometer hohe Schicht über Zentralindien, während der Subkontinent auf die asiatische Landmasse zuraste (nach geologischen Maßstäben), um schließlich in der frontalen Kollision den mächtigsten Gebirgszug der Erde aufzufalten. Das freigesetzte CO 2 überforderte sämtliche Kohlenstoffspeichermechanismen und läutete das Ende der Kreidezeit ein. Das Leben auf der Erde stand bereits mehrere Male am Abgrund. Alterre hätte keine alternative Evolution erlebt, wenn es keine Ursachen für Massenaussterben wie Vulkanismus, Polsprünge und Meteoriteneinschläge gäbe. Das Spielzeug der Champions im Gottesspiel. Was Lisa Durnau so große Angst macht, ist gar nicht die Tatsache, dass der Trapp ausgebrochen ist. Es ist die Tatsache, dass die Lavaströme in der realen Welt niemals bis zur Indus-Ganges-Ebene gekommen sind. In Alterre wird Varanasi unter einer dicken Schicht aus glühendem Basalt begraben.
Lisa steigt in die Gottesperspektive empor. Ein
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