Cyberabad: Roman (German Edition)
die Stechkin. Die Bestürzung steigert sich zu ängstlichen Schreien. Ihnen bleiben nur wenige Momente, um die Sache durchzuziehen. Yogendra steigt zu Ramanandacharya hinauf und drückt die Mündung der Stechkin lässig in die weiche Stelle unter dem Ohr.
»Alle halten die Klappe!«, ruft Shiv. Frauen. Überall Frauen. Frauen jeder Rasse und Nationalität. Junge Frauen. Frauen mit hübschen Brüsten und wunderbaren Brustwarzen, die sich durch die transparenten Cholis zeigen. Dieser verdammte Ramanandacharya. »Sofort. Klappe. Halten. Gut. Fettsack. Du hast etwas, das wir haben wollen.«
Najia hört Kinderstimmen aus dem Haus. Die Dhobi ist von den Büschen verschwunden, stattdessen sind Girlanden mit Wimpeln von der Küchentür bis zu den Aprikosenbäumen gespannt, die jetzt in voller Blüte stehen. Klapptische mit bunten Tischtüchern sind reichlich gedeckt mit Halwa und Jalebis, Ras Gullahs und Zuckermandeln, Burfi und großen Plastikflaschen mit echter Coke. Als Najia auf das Haus zugeht, rennen die Kinder durch die offene Terrassentür in den Garten, schreiend und in den Kindersachen von Kid at Gap.
»Daran erinnere ich mich!«, wendet sich Najia an die Kaih. »Das ist mein vierter Geburtstag. Wie machen Sie das?«
»Die Bilder basieren auf Aufzeichnungen, die Kinder sind so, wie Sie glauben, sich an sie zu erinnern. Das Gedächtnis ist eine sehr formbare Angelegenheit. Wollen wir hineingehen?«
Najia hält im Türrahmen inne, die Hände vor den Mund geschlagen, während die mächtigen Erinnerungen auf sie einstürmen. Die Seidenschonbezüge – ihre Mutter bestand darauf, dass sie über jede Stuhllehne gezogen wurden. Neben dem Tisch der russische Samowar, an dem nie das Gas abgedreht wurde. Der Tisch selbst, Staub und Krümel, die sich permanent in der chinesischen Schnitzarbeit abgelagert hatten, in der die vierjährige Najia Straßen und Wege erkannt hatte, denen ihre Puppen und Spielzeugautos folgen konnten. Die elektrische Kaffeekanne am anderen Ende, ebenfalls nie außer Betrieb. Die Stühle so schwer, dass sie sie nicht allein verrücken konnte und das Hausmädchen Shukria bitten musste, ihr zu helfen, wenn sie mit Besen und Decken Häuser und Geschäfte bauen wollte. Auf den Stühlen um den Esstisch ihre Eltern und ihre Freunde, die sich bei Kaffee und Tee unterhalten, die Männer beieinander, die Frauen beieinander. Die Männer sprechen über Politik und Sport und Karriere, die Frauen über Kinder und Preise und Karriere. Der Palmer ihres Vaters klingelt, und er runzelt die Stirn, und es ist ihr Vater, wie sie ihn von den Familienfotos kennt, als er noch Haar hatte, als sein Bart schwarz und gepflegt war, als er noch keine unmännliche Halbbrille brauchte. Er murmelt eine Entschuldigung, geht in sein Arbeitszimmer, das die vierjährige Najia niemals hatte betreten dürfen, aus Angst vor den scharfen giftigen empfindlichen persönlichen ansteckenden gefährlichen Dingen, die ein Arzt in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Najia beobachtet, wie er mit einer schwarzen Tasche herauskommt, seiner anderen schwarzen Tasche, die er nicht täglich benutzt, die nur für besondere Besuche da war. Sie sieht, wie er auf die Straße hinausgeht.
»Es war mein Geburtstag, und er hat verpasst, wie ich meine Geschenke bekomme. Und die Party. Er kam sehr spät zurück, als alle schon gegangen waren, und er war zu müde, um noch irgendetwas zu tun.«
Die Kaih winkt sie in die Küche, und in drei Schritten vergehen drei Monate, denn nun ist es ein dunkler Herbstabend, und die Frauen bereiten das Iftar vor, um das Ende der Fastenzeit für diesen Tag des Ramadan zu feiern. Najia folgt den beladenen Tabletts ins Esszimmer. In diesem Jahr versammeln sich die Freunde ihres Vaters, die aus dem Krankenhaus und die in Uniform, oft an Ramadan-Abenden im Haus, um über gefährliche Studenten und radikale Geistliche zu reden, die sie alle ins Mittelalter zurückbefördern möchten, und über die Unruhen und Streiks und Verhaftungen. Dann bemerken sie das kleine Mädchen, das mit der Reisschüssel am Ende des Tisches steht, und sie unterbrechen ihr Gespräch, um zu lächeln und ihr über das Haar zu streichen und ihre Gesichter dicht an ihres zu drücken. Plötzlich ist der Geruch nach Tomatenreis überwältigend. Ein Schmerz wie von einem Messer, das ihr in die Schläfe gestoßen wird, bewirkt, dass Najia die Reisschüssel aus den Händen fällt. Sie schreit auf. Niemand hört es. Die Freunde ihres Vaters reden weiter. Die
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