Cyberabad: Roman (German Edition)
Reisschüssel kann nicht herunterfallen. Es sind Erinnerungen. Sie hört gesprochene Worte, an die sie sich nicht erinnern kann.
»... werden rigoros gegen die Mullahs durchgreifen ...«
»... Geld auf ausländische Bankkonten transferieren. In London sieht es gut aus, dort versteht man, wie es uns hier geht ...«
»... dein Name wird sehr weit oben auf ihrer Liste stehen ...«
»... das wird sich Masoud nicht von ihnen gefallen lassen ...«
»... kennt ihr euch mit Tipping-Points aus? Irgendeine mathematische Theorie der Amerikaner, hab’s nicht ganz verstanden. Im Grunde geht es darum, dass man nichts von der Entwicklung merkt, bis es zu spät ist, etwas dagegen zu tun ...«
»... Masoud wird nicht zulassen, dass es dieses Stadium erreicht ...«
»... an deiner Stelle würde ich mir ernste Sorgen machen, ich meine, du lebst hier mit deiner Frau, der kleinen Najia ...«
Die Hand streckt sich ihr entgegen, um ihr das sanft gelockte schwarze Haar zu zerzausen. Die Welt wirbelt davon, und sie steht in ihrem Mammoth! -Pyjama an der halb offenen Tür zum Wohnzimmer.
»Was haben Sie mit mir gemacht?«, fragt sie die Kaih, eine Präsenz hinter ihr, die sie mehr spürt denn sieht. »Ich habe Dinge gehört, die ich jahrelang vergessen habe, fast mein ganzes Leben lang ...«
»Hyperstimulation des Riechepithels. Die wirksamste Methode, um verschüttete Gedächtnisteile zu aktivieren. Der Geruch ist der mächtigste Auslöser für Erinnerungen.«
»Der Tomatenreis ... woher wussten Sie davon?« Najia flüstert, obwohl ihre Gedächtniseltern sie nicht hören, nur ihre vorherbestimmten Rollen spielen können.
»Ich bestehe aus Gedächtnis«, sagt die Kaih, und Najia keucht und krümmt sich unter einem neuen Migräneanfall, als der erinnerte Duft von Orangenblüten sie in die Vergangenheit wirft. Sie drückt die Tür auf, weitet den lichterfüllten Spalt. Ihre Eltern blicken vom Tisch auf, der von Lampen beleuchtet wird. Wie in ihrer Erinnerung steht die Uhr auf elf. Wie in ihrer Erinnerung fragen sie, was los ist, kannst du nicht schlafen, was hast du, mein Schatz? Wie in ihrer Erinnerung sagt sie, es sei wegen der Hubschrauber. Wie sie vergessen hat, liegt auf dem lackierten Kaffeetisch, unter den gerahmten Diplomurkunden, Qualifikationen und Mitgliedsurkunden von Gelehrtengesellschaften an der Wand, ein Stück schwarzer Samt von der Größe eines Malbuchs. Über den Samt verteilt, wie Sterne, so hell und strahlend im Licht der Leselampe, dass Najia nicht versteht, wie sie diesen Anblick jemals hat vergessen können, sind wie ein Sternbild Diamanten angeordnet.
Die Facetten umhüllen sie, schleudern sie weiter durch die Zeit wie einen Splitter in einem Kaleidoskop.
Es ist Winter. Die Aprikosenbäume sind kahl, trockener Schnee, scharf wie Splitt, sammelt sich widerstrebend in einer Wehe vor der wasserfleckigen weißen Mauer. Die Berge scheinen nahe genug zu sein, um Kälte auszustrahlen. Sie erinnert sich, dass ihr Haus das letzte dieser Einheit war. Vor ihrem Gartentor endete die Straße, und kahles Ödland erstreckte sich ununterbrochen bis zu den Hügeln. Hinter der Mauer war nichts mehr, nur noch Wüste. Das letzte Haus in Kabul. Jedes Jahr heulte der Wind über die weite Ebene und brach sich am ersten vertikalen Objekt, das ihm in die Quere kam. Sie erinnert sich nicht, jemals eine einzige reife Aprikose an den Bäumen gesehen zu haben. Sie steht da in ihrem Wollmantel mit Pelzkapuze und ihren Wellington-Stiefeln und ihren Handschuhen, die an einer Schnur aus ihren Ärmeln baumeln, weil sie letzte Nacht wie jede Nacht ein Geräusch im Garten gehört hat, und sie hat nachgesehen, aber es waren nicht die Soldaten oder die bösen Studenten, sondern ihr Vater, der in der weichen Erde zwischen den Obstbäumen gegraben hat. Jetzt steht sie auf der leichten Erhebung der frisch umgegrabenen Erde und hält eine Gartenschaufel in der Hand. Ihr Vater arbeitet im Krankenhaus und hilft Frauen, Babys zu bekommen. Ihre Mutter sieht fern, eine indische Soap Opera, die ins Pashtun übersetzt wurde. Alle sagen, dass die Sendung sehr albern und eine Zeitverschwendung und offensichtlich indisch ist, aber sie schauen sie sich trotzdem an. In ihren gerippten Winterstrumpfhosen geht sie in die Knie und fängt an zu graben. Immer tiefer, drehen und schaufeln, dann kratzt das grün emaillierte Blatt über Metall. Sie scharrt es frei und zieht das Ding heraus, das ihr Vater vergraben hat. Als sie es aufhebt, hätte sie das weiche
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