Cyberabad: Roman (German Edition)
heranzukommen.
»Ich muss mich für meinen Freund entschuldigen«, sagt Lisa Durnau. »Er ist überreizt ...« Sie packt Thomas Lull an den Schultern. »Ich glaube, wir sollten gehen.«
»Ja, das wäre vielleicht das Beste«, sagt Nanak und wickelt sich enger in seine Schals. »In diesem Gewerbe ist Diskretion geboten. Ich kann mir keine lauten Stimmen leisten.«
Thomas Lull schüttelt den Kopf, angewidert von sich selbst und von den Worten, die in diesem Raum gefallen sind. Er streckt dem Neut eine Hand entgegen, die ys nicht annimmt.
An den Koffern sind kleine Plastikräder, die über die Straßen der Innenstadt rattern. Der Boden ist uneben, und die Griffe sind einfache Gurtschlaufen, und Krishan und Parvati laufen, so schnell sie können, so dass die Koffer alle paar Minuten aus dem Gleichgewicht geraten und umkippen. Die Taxis schießen spritzend an Krishans erhobener Hand vorbei, ständig patrouillieren Truppentransporter, und die Gesänge der Karsevaks kommen einmal von dieser Seite, dann von der anderen, dann von hinten, dann von vorn, so dass sie sich in Hauseingängen verstecken müssen, wenn sie vorbeirennen. Parvati ist erschöpft und völlig durchnässt, der Sari klebt ihr am Körper, ihr Haar hängt in Strähnen herab, und es sind immer noch fünf Kilometer bis zum Bahnhof.
»Zu viele Kleider«, witzelt Krishan. Parvati lächelt. Er hebt beide Koffer an, einen in jeder Hand, und marschiert weiter. Gemeinsam gehen sie geduckt durch die Straßen, huschen von Eingang zu Eingang, weichen vor Militärfahrzeugen zurück, rennen über Kreuzungen, ständig auf unerwartete Geräusche und plötzliche Bewegungen achtend.
»Nicht mehr weit«, lügt Krishan. Seine Unterarme sind verkrampft und schmerzen. »Sind bald da.«
Als sie sich dem Bahnhof nähern, tauchen Menschen aus den kapillaren Galis und Wohnstraßen auf, genauso wie sie beladen mit Taschen und Bündeln, befördert von Fahrradrikschas, Handwagen und Autos. Die Rinnsale vereinigen sich zu immer größeren Bächen und Flüssen, bis sie einen breiten Strom aus Köpfen bilden. Parvati klammert sich an Krishans Ärmel. Wenn sie hier auseinandergerissen werden, wären sie vielleicht für Jahre getrennt. Krishan watet weiter, die Fäuste fest um die Plastikgriffe geschlossen, die sich anfühlen, als würden sie aus brennender Kohle bestehen, die Halsmuskeln angespannt, die Zähne zusammengebissen, geradeaus blickend, an nichts anderes denkend als den Bahnhof den Zug den Bahnhof den Zug, und wie jeder Schritt ihn näher heranbringt, näher ans Ziel und den Moment, wo er seine Last absetzen kann. Jetzt watschelt er und versucht, sich im gleichen Tempo wie der Menschenstrom zu bewegen. Parvati ist ihm näher als ein Schatten. Eine Frau in vollständiger Burka drängt sich vorbei. »Was tun Sie hier?«, zischt sie. »Ihnen haben wir das alles zu verdanken.« Krishan treibt die Frau mit seinen Koffern zurück, bevor ihre Worte sich ausbreiten und den Zorn der Menge auf sie lenken. Denn erst jetzt sieht er, was er bereits den ganzen Weg vor Augen hatte: Die Muslime verlassen Varanasi.
»Glaubst du, dass wir einen Zug bekommen werden?«, flüstert Parvati. Da versteht Krishan, dass die Welt nicht wegen ihrer romantischen Vorstellungen stehen bleiben wird, dass sich die Menge nicht teilen und sie passieren lassen wird, dass die Geschichte ihnen keine Gnade gewähren wird, weil sie sich lieben. Es ist keine verwegene, romantische Flucht. Sie handeln dumm, blind und selbstsüchtig. Er verliert fast den letzten Mut, als sich die Straße auf den Platz vor dem Bahnhof öffnet und sich der Strom der Flüchtlinge in die größte Menschenmasse ergießt, die er jemals gesehen hat, mehr als jede Zuschauermenge, die sich je im Sampurnanand-Stadion versammelt hat. Er kann die Sparren und das durchsichtige Diamantfaserdach der Bahnhofshalle und die offenen Glasportale vor den Ticketschaltern sehen. Er kann am Bahnsteig den Zug sehen, der unter den gelben Lampen glänzt, bereits bis zum Dach beladen, obwohl immer mehr Menschen hinaufsteigen. Er kann die Soldaten als Silhouetten vor der Dämmerung auf ihren Panzerfahrzeugen sehen. Aber er sieht keinen Weg durch die Menschen, durch all die vielen Menschen. Und die Koffer, diese blöden Koffer, ziehen ihn hinunter, durch den Beton in den Boden, sie verankern ihn wie Wurzeln.
Parvati zerrt an seinem Ärmel. »Hier entlang.«
Sie zerrt ihn zu den Toren der Halle. Am Rand des Platzes ist das Gedränge erträglicher, weil sich
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