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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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fester und zieht sie hinauf in den Zug.
    Auf der Rückreise sind Lisa Durnau und Thomas Lull die einzigen Passagiere in der Lounge. Sie fühlt sich groß und plastikartig und ungeschützt unter den unfreundlichen Leuchtstofflampen an, so dass Lisa vorschlägt, nach draußen zu gehen, um einen Blick auf den heiligen Fluss zu werfen. Heiliges Wasser ist für Lisa Durnau eine neuartige Vorstellung. In den Regenböen stehen sie nebeneinander am Geländer und betrachten die sandigen Ufer und Wassergewinnungsanlagen aus rostigem Blech. Etwas bricht durch die Oberfläche. Lisa fragt sich, ob es einer der blinden Flussdelfine ist, von denen sie auf dem Flug von Thiruvananthapuram nach hier gelesen hat. Delfin oder Leiche. Bestimmte Klassen von Hindus dürfen nicht verbrannt werden und werden der Gnade von Ganga Mata überantwortet.
    Einmal hatte sie sich bei einer Konferenz mit Jet/Zug/Taxi-Lag in der Lobby in einen Ledersessel geworfen, neben einem afrikanischen Delegierten, der dort ebenfalls, aber völlig entspannt Platz genommen hatte. Sie nickte ihm zu, mit aufgerissenen Augen, fix und fertig, Puuuh . Er nickte zurück und klopfte mit den Händen auf die Armlehnen des Sessels. »Ich warte hier nur, bis meine Seele mich eingeholt hat.« Das sollte sie jetzt tun. Sich selbst einholen. Eine kleine Auszeit von der Abfolge der Ereignisse und Termine, ein Moment, der nicht mit irgendeiner Person oder einer Sache oder Problemen ausgefüllt ist, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchen, im Scheinwerferlicht der Geschichte erstarrt. Nicht mehr reagieren, sich Zeit nehmen, einen Schritt nach dem anderen, die Seele aufholen lassen. Sie würde sehr gern eine Weile laufen. Da das nicht möglich ist, wenigstens etwas Zeit allein mit einem heiligen Fluss.
    Sie sieht Thomas Lull an. In seiner Haltung am Geländer sieht sie vier Jahre, sieht sie Unsicherheit, sieht sie das Verblassen des Selbstvertrauens, die Abkühlung von Inbrunst und Energie. Wann hast du zum letzten Mal wegen irgendetwas vor Leidenschaft gebrannt? Sie sieht einen Mann mittleren Alters, der jeden Tag dem Tod ins Auge blickt. Sie sieht fast nichts mehr von dem Mann, mit dem sie schmutzigen, erwachsenen Sex in einer Dusche des Oxford College hatte. Das ist definitiv vorbei, denkt sie und hat Mitleid mit ihm. Er sieht so müde aus.
    »Sag mir, L. Durnau, siehst du sie noch manchmal? Du weißt schon, Jen.«
    »Gelegentlich, beim Einkaufen, bei Spielen der Jayhawks. Sie hat wieder jemanden.«
    »Ich dachte, schon vorher. Du weißt. Genauso wie man weiß, wenn etwas in der Luft liegt. Chemie oder so. Sieht sie glücklich aus?«
    »Normal glücklich.« Lisa ahnt die unvermeidliche nächste Frage. »Kein Kinderwagen.«
    Er blickt auf das vorbeiziehende Ufer, die weißen Tempel-Shikharas, die sich dunstig vor den Regenwolken hinter der dunklen Linie der Bäume abzeichnen. Büffel wälzen sich im Wasser und heben die Köpfe aus der sich ausbreitenden Heckwelle des Tragflügelboots.
    »Ich weiß, warum Jean-Yves und Anjali es getan haben, warum sie ihr das Foto hinterließen. Ich hatte mich gefragt, warum sie ein Loch mitten ins Herz der Sache stanzen sollten. Anjali konnte keine Kinder bekommen, weißt du.«
    »Kij war ihre Ersatztochter.«
    »Sie fanden, dass sie es verdient hatte, die Wahrheit zu erfahren. Lieber herausfinden, was sie wirklich ist, als ein Leben voller Illusionen führen. Mensch sein heißt desillusioniert sein.«
    »Aber das ist nicht deine Überzeugung.«
    »Ich habe nichts mit deinem strengen calvinistischen Gebaren zu tun. Ich bin mit Illusionen zufrieden. Ich glaube nicht, dass ich den Mut oder die Gefühllosigkeit gehabt hätte, ihr so etwas anzutun.«
    Aber auch du bist fortgegangen, denkt Lisa Durnau. Auch du hast deine Freunde, deine Karriere, deinen Ruf, deine Beziehungen aufgegeben. Für dich war es leicht, dich umzudrehen und wegzugehen und nie mehr zurückzublicken.
    »Aber sie hat sich auf die Suche nach dir gemacht«, sagt Lisa Durnau.
    »Ich kann ihr keine Antworten geben«, sagt Thomas Lull. »Warum hast du Antworten? Du wirst geboren, ohne irgendeinen Scheiß zu wissen, du gehst durchs Leben, ohne irgendeinen Scheiß zu wissen, und dann stirbst du, ohne jemals irgeneinen Scheiß zu wissen. Das ist das ganze Geheimnis. Ich bin kein Guru, von niemandem, nicht für dich, nicht für die NASA , nicht für irgendeine Kaih. Weißt du was? Bei all den Artikeln und Fernsehauftritten und Konferenzen bin ich nur spontanen Eingebungen gefolgt. Mehr nicht.

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