Cyberabad: Roman (German Edition)
Bhubaneshwar, hat nie die Grenze zum alten Orissa überquert, doch im Kopf hat sie das Bild von wehender orange- und scharlachroter Seide, die Rath Yatra des Jagannath. Dann druckt der Ticket-Wallah die Tickets aus, nennt ihnen die Zugnummer und die Abfahrtszeit und den Bahnsteig und die reservierten Sitzplätze und schiebt die Papiere durch die Trennscheibe.
Noch vier Stunden bis zum Zug nach Raipur, wo sie in Richtung Bhubaneshwar umsteigen werden. Das langsame Förderband aus Menschen bringt sie durch die Türen auf den Bahnsteig, wo sie sich auf ihr Gepäck setzen, zu müde für Worte, beide zu besorgt, dass der andere etwas sagen könnte, worauf sie ihre blauen Plastikkoffer im Stich lassen und zurück in ihr Leben und ihre Lügen flüchten, um das kleine Abenteuer zu beenden. Krishan kauft sich gedruckte Zeitungen an einem Stand – nicht viele, denn das, was Parvati darin liest, macht ihr Angst, sich gemeinsam mit all den Muslimen auf dem Bahnsteig aufzuhalten, trotz der Soldatengruppen, die hin und her patrouillieren. Sie spürt das Gewicht ihrer Blicke, hört ihr Gezische und Gemurmel. Mrs. Khan aus der Quartier-Gesellschaft, die beim Cricketspiel so sehr von der Politik des Krieges überzeugt war, könnte ebenfalls hier sein. Nein, nicht die Begum Khan, sie würde längst einhundert Kilometer weit weg in der Ersten Klasse in einem klimatisierten Waggon sitzen, sie würde in ihrem Wagen mit Chauffeur nach Süden brausen, sie würde in der Businessclass mit einem Airbus fliegen.
Regen tropft vom Rand des Bahnhofsdachs. Krishan zeigt Parvati die Schlagzeile, immer noch etwas feucht und verschmiert vom Drucker, die eine große Koalitionsregierung der Nationalen Rettung gemeinsam mit N. K. Jivanjees Shivaji-Partei verkündet, die für die Wiederherstellung der Ordnung und die Zurückschlagung der Invasoren sorgen wird. Das ist es, was Parvati auf den Bahnsteigen gespürt hat wie eine heranwehende Kaltluftfront. Der Feind hat die Oberhand gewonnen. Doch in Bharat ist kein Platz für den Islam.
Der Zug macht sich bemerkbar, bevor man ihn sehen kann. Das Rattern der Gleise, die tiefen Vibrationen, die durch die Stahlpfeiler, die das Bahnhofsdach stützen, zu den Schlafenden übertragen werden, das Rumpeln im schwarzen Asphalt. Die Menge erhebt sich, eine Familie nach der anderen, während der Zug in der Fluchtperspektive der Gleise größer wird, sich über die Weichen heranschlängelt und sich Bahnsteig 15 nähert. Die Anzeigetafeln leuchten auf: Raipur Express. Krishan hebt die Koffer auf, als die Menge nach vorn drängt, dem Zug entgegen. Ein Waggon nach dem anderen zieht vorbei, doch es sieht nicht danach aus, als wollte der Zug anhalten. Parvati drückt sich eng an Krishan. Nur einmal stolpern und stürzen, und im nächsten Moment würde man unter den Guillotinen der Räder sterben. Langsam kommt der große grüne Zug zum Stehen.
Plötzlich wird Parvati von Körpern bedrängt. Sie wird gegen Krishan geworfen, der heftig gegen die Wand des Waggons prallt. Gleichzeitig erhebt sich lautes Gebrüll im Hintergrund der Menge.
»Zu mir, zu mir!«, ruft Krishan. Die Türen öffnen sich zischend. Sofort sind sie mit Körpern verstopft. Arme stoßen, Oberkörper winden sich, Gepäck wird hineingequetscht. Die Woge treibt Parvati von der Treppe weg. Krishan kämpft gegen den Strom, klammert sich am Türrahmen fest, verzweifelt bemüht, nicht von ihr getrennt zu werden. Verängstigt streckt Parvati die Hände nach ihm aus. Frauen drängeln sich um sie, schreien sinnlose Flüche, Kinder strampeln sich vorbei. Der Bahnsteig besteht nur noch aus Köpfen, Köpfen und Händen, Köpfen und Händen und Bündeln, und immer mehr Menschen kommen über die Gleise von den anderen Bahnsteigen herangerannt, um den Zug zu erreichen, der sie von Varanasi wegbringen wird. Junge Männer treten auf Parvati, wenn sie versuchen, auf das Dach zu klettern, und immer noch streckt sie die Hand nach Krishan aus.
Dann ertönen die Schüsse, kurze ratternde Folgen automatischer Salven. Der Mob auf dem Bahnsteig geht schlagartig zu Boden, hält sich die Arme über die Köpfe. Geschrei, Gekreische und das schreckliche unstillbare Gejammer der Verletzten. Diesmal schießen die Soldaten nicht, um einzuschüchtern. Parvati spürt, wie sich Krishans Hand um ihre schließt. Wieder knallt es. Sie sieht Blitze, hört die Kugeln, die als Querschläger von den Pfeilern abprallen. Krishan stößt einen seltsamen leisen Seufzer aus, dann packt er sie
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