Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
Vom Netzwerk:
Alterre? Auch nur irgendwas, das mir eines Tages einfach so in den Kopf gekommen ist.«
    Lisa Durna packt das Geländer mit beiden Händen. »Lull, Alterre ist untergegangen.«
    Sie weiß nicht, was sein Gesicht ausdrückt, genauso wenig wie seine Haltung. Sie versucht eine Reaktion zu provozieren. »Alles wurde ausgelöscht, Lull. Alle elf Millionen Server sind abgestürzt. Ein vollständiges Massenaussterben.«
    Thomas Lull schüttelt den Kopf. Thomas Lull runzelt die Stirn. Dann sieht Lisa einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie selbst sehr gut kennt: die Verblüffung, das Erstaunen, die Erleuchtung einer Idee .
    »Was stand die ganze Zeit hinter Alterre?«, fragt er.
    »Dass eine simulierte Umwelt ...«
    »Irgendwann wahre Intelligenz hervorbringen könnte.« Die Worte stürzen aus ihm hervor. »Was wäre, wenn wir mehr Erfolg hatten, als wir jemals hoffen konnten? Was wäre, wenn gar keine intelligenten Wesen in Alterre entstanden sind, sondern das Ganze lebendig wurde ... ein Bewusstsein entwickelte ... Kalki ist der zehnte Avatar von Vishnu. Er steht oben an der Spitze der evolutionären Pyramide von Alterre, der Bewahrer und Erhalter allen Lebens, alle Dinge stammen von ihm ab und sind von seiner Substanz. Dann wagt er sich hinaus und findet da draußen eine andere Welt voller Leben. Sie ist kein Teil seiner Welt, sondern separat, unverbunden, völlig fremdartig. Ist sie eine Bedrohung, ist sie ein Segen, ist sie etwas absolut anderes? Er muss mehr darüber wissen. Er muss Erfahrungen sammeln.«
    »Aber Alterre ist abgestürzt.«
    Er kaut es auf der Unterlippe durch und wird still und düster, während er auf den großen Fluss im Regen hinausblickt. Lisa Durnau versucht, die Unmöglichkeiten zu zählen, die er verarbeiten muss. Nach einer Weile streckt er eine Hand aus. »Gib mir das Ding. Ich muss Kij finden. Wenn Vishnu fort ist, hat sie keine Verbindung zum Netz mehr. Ihr ganzes Leben war eine Illusion, und nun haben selbst die Götter sie im Stich gelassen. Was wird sie denken oder fühlen?«
    Lisa zieht die Lade aus der fleischweichen Ledertasche und reicht sie Lull. Sie gibt die tiefen Glockentöne einer Tonleiter von sich. Thomas Lull hätte sie vor Überraschung beinahe fallen lassen. Lisa fängt das Gerät auf dem Weg in den Ganga und zum Moksha ab. In ihrer Wahrnehmung erscheint eine Stimme und ein Gesicht: Daley Suarez-Martin.
    »Etwas ist am Tabernakel geschehen. Man hat von ihm ein weiteres Signal empfangen.« Die Lade zeigt ein viertes Gesicht, einen Mann, einen Bharati, so viel ist selbst in der schlechten Auflösung des zellularen Automaten offensichtlich. Ein dünnknochiger, verhärmter Mann. Lisa Durnau kann den Kragen einer Nehru-Anzugjacke erkennen. Sie findet, dass er einen unglaublich traurigen Gesichtsausdruck hat. Eine Ident-Zeile ist eingeblendet.
    »Sie sollten Ihre Freundin möglichst schnell finden«, sagt sie. »Das ist Nandha. Er ist ein Krishna Cop.«
    Im grauen Licht flieht sie aus dem Haus. Der Regen fällt auf Scindia Basti. Die bloßen Füße der Frauen, die von den Pumpen Wasser holen, haben die Gassen in übelriechende Schlammstreifen verwandelt. Die Kanalisation fließt über. Auch die Männer sind in der Dämmerung unterwegs, um zu kaufen und zu verkaufen, um sich vielleicht anheuern zu lassen, einen Graben für ein Kabel anzulegen, um vielleicht eine Tasse Chai zu trinken, um vielleicht nachzusehen, ob noch irgendetwas von der Stadt übrig ist. Sie starren das Mädchen mit der Vishnu-Tilaka an, wie sie sich an ihnen vorbeidrängt, rennend, als wäre ihr Kali auf den Fersen.
    Augen in der Dunkelheit im Haus neben dem linken Fuß des Strommasts. »Wir sind arme Leute, wir haben nichts, was Sie vielleicht von uns haben wollen, bitte lassen Sie uns in Frieden.« Dann das Kratzen und Aufflammen eines Streichholzes und das Licht, das durch die Dunkelheit wanderte bis zum Docht der kleinen Diya aus Ton. Die erblühende Lichtknospe erhellte den Raum mit dem Lehmboden. Dann die ängstlichen Schreie.
    Fahrzeuge brüllen sie an, Metall ragt gewaltig auf, zieht sich wieder in den Regen zurück. Donnernde Stimmen, Körper, die gegen sie drängen, scheinbar von Wolkengröße. Ein Fluss aus Bewegungen und alkoholbetriebenen Gefahren. Sie ist auf der Straße und weiß nicht, wie. Die Gewissheiten und die göttliche Führung durch die Nacht haben sich im Licht aufgelöst. Zum ersten Mal gibt es keine klare Trennung zwischen Gott und Mensch mehr. Sie ist sich nicht sicher, ob sie den

Weitere Kostenlose Bücher