Cyberabad: Roman (German Edition)
Land unterwegs sein. Sie sind gut getarnt, sie können sich auf vielerlei Weise unsichtbar machen.«
»Nicht so langsam wie dieses alte Wrack«, witzelt der Fahrer. Der Sikh unterdrückt ein Lächeln und beugt sich herab, um einen Blick auf den Passagier zu werfen. Thal schaltet hastig die bpm ab. Ys sitzt völlig ruhig da, völlig aufrecht, mit verräterisch lautem Herzschlag.
»Und Sie, Sir? Madam?«
Seine Soldaten kichern. Der Sikh hat Zwiebeln gegessen. Thal glaubt, ys könnte vom Gestank und von der Anspannung ohnmächtig werden. Ys öffnet sys Handtasche und zieht die dicke Einladung mit Goldrand heraus. Der Sikh sieht sie sich an, als könnte sie ihm einen Vorwand für eine gründliche Durchsuchung aller Körperöffnungen liefern. Dann gibt er sie Thal zurück.
»Sie haben Glück, dass wir heute Nacht hier draußen sind. Sie haben die richtige Abzweigung um ein paar Kilometer verfehlt. Sie sind schon der siebte oder achte. Fahren Sie folgendermaßen ...«
Thal atmet wieder. Als der Fahrer das Taxi wendet, kann er über dem Schnurren des Alkoholmotors deutlich das hässliche Lachen der Soldaten hören.
Ich hoffe, ein paar langsame Drohnen schleichen sich an euch an, denkt Thal.
Der halb zerfallene Ardhanarishvara-Tempel steht zwischen Bäumen an einem Schotterweg, der direkt von der Hauptstraße abgeht. Die Organisatoren der Party haben den Entladebereich mit Biolum-Klebestreifen erleuchtet. Das grüne Licht zeichnet Gesichter auf die Baumstämme, wirft einen unheimlichen Schein auf die zusammengesackten Statuen und Yakshis, die im uralten Boden liegen. Der Empfang ist thematisch nach diametralen Gegensätzen gestaltet: Sakti und Purusa, weibliche und männliche Energien, Sattva und Tamas, spirituelle Intelligenz und irdischer Materialismus. Die yoniförmigen Becken sind extravagant geflutet worden. Thal denkt an sys Partyvorbereitungen, eine spärliche Katzenwäsche mit einer Flasche erwärmtem Mineralwasser. Die Wasserversorgung im White Fort – die riesige Ballung von Wohnanlagen, in denen Thal sys Zwei-Zimmer-Apartment hat – funktioniert nun schon seit zwei Monaten nicht mehr. Tag und Nacht zieht vor sys Wohnungstür eine Prozession aus Frauen und Kindern vorbei, die Wasserkanister die Treppenstufen hinauftragen.
Aus Düsen im Zentrum der Yoni-Becken lodern Gasflammen empor. Thal mustert die Dvarapala, die Zwillingsfiguren der Tempelwächter, während der Taxifahrer sys Karte durch das Lesegerät zieht. Die Ruinen der Arkade werden vom Bildnis Ardhanarishvaras dominiert, eine halb männliche, halb weibliche Gestalt. Eine einzige volle Brust, ein erigierter Penis, der in der Mitte halbiert ist, ein Hoden, eine Labienlocke, die Andeutung eines Schlitzes. Der Oberkörper hat die Schulterbreite eines Mannes, die Hüften haben die Fülle einer Frau, die Hände sind feinfühlig zu rituellen Mudras erhoben, aber die Züge sind verallgemeinert, androgyn. Das dritte Auge Shivas auf der Stirn ist geschlossen. Drinnen dröhnt die Musik. Mit der Einladung in der Hand geht Thal zwischen den Wächtergottheiten hindurch zur Party der Saison.
Selbst als Thal ihnen die Einladung zeigte, waren die Leute in der Abteilung davon überzeugt, dass ys sie gefälscht hätte. In einem Arbeitsbereich, der für den Entwurf visueller Hintergründe für das fiktive Leben der Kaih-Schauspieler von Indiens beliebtester Soapi zuständig war, war dieser Verdacht nur folgerichtig. Thal hatte es selbst nicht geglaubt, als ys die dicke, cremefarbene Wafer-Karte in sys Posteingang vorgefunden hatte.
FASHIONSTAR PROMOTIONS
im Auftrag von MODE ASIA lädt THAL ein, Nr. 27, Korridor 30, 12. Stock, Indira Ghandi Apartments (wie das White Fort nur von den Postämtern, dem Finanzamt und den Gerichtsvollziehern bezeichnet wurde), zu einem EMPFANG zu erscheinen, um YULI in Varanasi zur BHARAT FASHION WEEK willkommen zu heißen. ORT: Ardhanarishvara-Tempel, Mirza Murad District FESTAKT: zur 22. Stunde NATION: Neutalien
u. A. w. g.
Die Karte fühlte sich so warm und weich an wie Haut. Thal hatte sie Mama Bharat gezeigt, der alten Witwe, deren Wohnungstür sich auf seinem Treppenabsatz befand. Sie war eine sanfte Seele, die von ihrer Familie in einem seidenen Kerker gefangen gehalten wurde. Auf die moderne Weise: ein unabhängiges Leben im Alter. Vor drei Monaten war Thal eingezogen und zu Mama Bharats Familie geworden. Sonst wollte sowieso niemand mit ys reden. Thal akzeptierte die täglichen Besuche zum Chai und Snack und zweimal pro
Weitere Kostenlose Bücher