Cyberabad: Roman (German Edition)
auf der Sonnenliege erarbeiteten Bräune und den Bikinihöschen unter den reisebügeleisengebügelten Sarongs. Dies ist euer erstes Reiseziel, nicht wahr? Ihr habt es auf irgendeiner Backpacker-Seite gefunden, gerade wild genug, um herauszufinden, ob es euch hier draußen in der rauen Welt gefällt. Ihr konntet es gar nicht abwarten, von Uppsala oder Kopenhagen aufzubrechen und all die bösen Dinge zu tun, die ihr im Herzen habt.
»Hallo«, grüßt Thomas Lull sie leise. »Falls ihr vorhabt, an der heutigen Abendunterhaltung teilzunehmen, noch ein paar Dinge vorab. Nur zu eurer eigenen Sicherheit.« Mit der lässigen Handbewegung eines Kartenspielers klappt er sein Scannerkit auf.
»Klar«, sagt das kleinere, goldenere Mädchen. Thomas Lull legt ihre Handvoll Pillen und Pflaster in den Scanner.
»Nichts dabei, das aus eurem Gehirn einen Teller Vichyssoise machen würde. Die Tagessuppe ist Transic Too, ein neues Emotikum, ihr könnt es von jedem im Bühnenbereich bekommen. Und nun, Madame ...« Er wendet sich an die Strandwikingerin mit dem Glupschaugen, die schon recht früh mit der Party begonnen hat. »Ich muss überprüfen, ob es mit irgendwas reagiert, das du bereits intus hast. Könntest du ...?« Sie kennt die Routine, leckt sich am Finger und rollt ihn auf der Sensorfläche ab. Alles wird grün. »Kein Problem. Viel Spaß auf der Party, meine Damen. Es ist übrigens ein alkoholfreies Event.«
Als sie sich in das stumme Gewimmel hineinschlängeln, betrachtet er ihre Hintern durch die dünnen Sarongs. Sie halten sich immer noch an den Händen. Wie süß, denkt Thomas Lull. Aber das Emotikum macht ihm Angst. Computeremotionen, die auf einer Kaih der Stufe 2,95 in den Sundarbans von Bharat ohne Lizenz zusammengebraut wurden, synthetisiert in einer Colaflaschenfabrik in irgendeinem Schlafzimmer und auf Heftpflaster gepappt, fünfzig Dollar pro Klaps. Es ist einfach, die User zu erkennen. Am Zucken und Grinsen, an den gebleckten Zähnen und den unheimlichen Geräuschen von Körpern, die Gefühle auszudrücken versuchen, die keine Entsprechung in der Welt menschlicher Bedürfnisse oder Erfahrungen haben. Er hat noch nie jemanden getroffen, der ihm erklären konnte, wie sich diese Gefühle anfühlen. Andererseits kennt er auch niemanden, der erklären könnte, wie sich ein natürliches Gefühl anfühlt. Wir alle sind nur programmierte Geister, die auf dem dezentralisierten Netzwerk von Brahma laufen.
Der Vogel ist immer noch da draußen und ruft.
Er schaut über die Schulter zur Strandparty. Jeder Tänzer hält sich in seiner oder ihrer privaten Sphäre auf und tanzt nach seinem oder ihrem benutzerdefinierten Beat, der durch die Hoekverbindung übertragen wird. Er belügt sich damit, dass er nur deshalb hier arbeitet, weil er das Geld gebrauchen kann, aber er hat sich schon immer von Menschenmassen angezogen gefühlt. Er braucht und fürchtet die Selbstverlorenheit der Tanzenden, die zu einem unbewussten Ganzen verschmelzen, isoliert und gleichzeitig vereint. Es ist die gleiche Liebe und Verachtung, die ihn zum zerstückelten Körper Indiens hingezogen hat, eins der hundert wiedererkennbarsten Gesichter des Planeten, verrührt mit den schrecklichen, befreienden, gesichtslosen anderthalb Milliarden des Subkontinents. Umdrehen, weggehen, verschwinden. Diese Fähigkeit, sich in einer Menge zu verlieren, hat auch ihre Kehrseite: Thomas Lull kann in jeder Herde jemanden aufspüren, der individuell, ungewöhnlich, gegensätzlich ist.
Sie bewegt sich quer durch die Strömungen der Menge, durch die Körper, gegen die Maserung der Nacht. Sie ist in Grau gekleidet. Ihre Haut ist blass, weizenfarben, indo-arisch. Ihr Haar ist kurz, jungenhaft, sehr glänzend, mit einem Hauch Rot. Ihre Augen sind groß. Gazellenaugen, wie sie die Urdu-Poeten besungen haben. Sie sieht unglaublich jung aus. Auf der Stirn trägt sie eine dreigestreifte Vishnu-Tilaka. An ihr sieht es überhaupt nicht albern aus. Sie nickt, lächelt, und die Körper umschließen sie wieder. Thomas Lull versucht eine Stelle zu finden, von wo er schauen kann, ohne gesehen zu werden. Es ist keine Liebe, es sind keine Mittvierziger-Hormone. Es ist bloße Faszination. Er muss mehr sehen, mehr über sie erfahren.
»Hallo!« Ein australisches Pärchen möchte sein Zeug überprüfen lassen. Thomas Lull checkt ihren Vorrat mit dem Scanner, während er die Party beobachtet. Grau ist die perfekte Tarnung auf einer Party. Sie ist mit einem Wechselspiel sich lautlos
Weitere Kostenlose Bücher