Cyberabad: Roman (German Edition)
Platz am Ende der geschwungenen, lumineszierenden Bar ab und überblickt das Material. Vierarmige Barkeeper schütteln akrobatische Cocktails. Thal bewundert das Geschick ihrer Robotik. »Was ist das?«, fragt ys und zeigt auf den fluoreszierenden Kegel aus goldenem Eis, der auf der Spitze stehend auf der Theke balanciert.
»Non-Russian«, sagt der Barkeeper, während seine unteren Arme nach einem Glas greifen und Eis hineinschaufeln. Thal nippt vorsichtig. Wodka-Basis, etwas wie Vanille-Sirup, eine Faustvoll zerkleinertes Eis und ein Schuss deutscher Zimtschnaps, Flocken aus Goldfolie, die durch die Eiszwischenräume nach unten treiben. Das Surren der Mikrogyros lässt Thals Finger kribbeln.
Dann öffnet die Partydynamik vorübergehend einen Blickkorridor, und Thal erspäht in rein weißem Eisbärfell und golden getönter Skibrille den Star in sys ganzer Pracht: YULI .
Thal verschlägt es die Sprache. Ys ist von der Gegenwart der Prominenz paralysiert. Sämtliche medialen Anmaßungen und Raffinessen verflüchtigen sich. Schon bevor sys Ausstieg hat Thal YULI zum Idol erhoben: ein Superstar als Konstrukt, eine Manipulation wie die Darsteller von Stadt und Land . Jetzt ist ys hier, leibhaftig und bekleidet, und Thal ist vor Ehrfurcht erstarrt. Ys muss in Yulis Nähe gelangen. Ys muss ys atmen und lachen hören und sys Wärme spüren. An diesem Abend gibt es nur zwei reale Objekte im Tempel. Gäste, Neuts, Personal, Musik – all das ist unbestimmt, gehört zum Reich von Ardhanarishvara. Thal ist jetzt hinter Yuli, nahe genug, um die Hand auszustrecken, zu berühren und zu verifizieren. Der Bogen der Wangenknochen verschiebt sich. Yuli dreht sich um. Thal lächelt, ein großes dummes Grinsen. Bei den Göttern, jetzt sehe ich wie ein sabbernder Promi-Fan aus, was soll ich nur sagen? Ardhanarishvara, Gottheit des Dilemmas, hilf mir! Götter, stinke ich? Denn ich hatte nur eine halbe Flasche Wasser, um mich zu waschen ... Yulis Blick streift ys, geht durch ys hindurch, löscht ys aus und wendet sich jemandem hinter ys zu. Yuli lächelt, breitet die Arme aus.
»Liebling!«
Ys rauscht vorbei, ein warmer Schwall aus Pelz und goldener Haut und Wangenknochen wie Rasierklingen. Die Entourage folgt. Eine Hüfte rempelt Thal an, stößt ys das Glas aus der Hand. Es fällt zu Boden, wankt heftig und findet schließlich die Mitte wieder, auf der Spitze rotierend. Thal steht benommen da, steinern wie die fremdartigen Sexstatuen des Tempels.
»Oh, Sie scheinen Ihren Drink verloren zu haben.« Die Stimme, die durch die Mauer des Geschnatters bricht, ist weder männlich noch weiblich. »Das geht doch nicht an, mein Liebstes, nicht wahr? Komm mit, das ist nur ein Haufen verdammter blöder Zicken, Schwester, und wir sind nicht mehr als Wallpaper.«
Ys ist einen Kopf kleiner als Thal, dunkelhäutig, mit der Andeutung einer Mongolenfalte – in der Mischung sind auch ein paar Assam- oder Nepal-Gene. Ys hat die scheue und gleichzeitig stolze Haltung jener Völker. Ys trägt einfaches Weiß, das der Mode trotzt, und die rasierte Kopfhaut, die mit goldenem Glimmer bestäubt ist, stellt die einzige Konzession an den zeitgemäßen Geschmack dar. Wie immer bei ihresgleichen kann Thal nicht einmal ansatzweise sys Alter einschätzen.
»Tranh.«
»Thal.«
Sie knicksen und küssen sich zur Begrüßung. Sys Finger sind lang und elegant, französisch manikürt, ganz anders als Thals stummelige Keypad-Tippfinger mit den abgekauten Nägeln.
»Verdammt beschissen hier, was?«, sagt Tranh. »Trink, mein Liebstes. Hier!« Ys klopft auf den Tresen. »Genug von dieser Non-Russian-Pisse. Gebt mir Gin. Chota Peg, zweimal. Chin chin.« Nach dem übersüßten theatralischen Hauscocktail schmeckt das klare Glas mit dem Schuss Limone sehr gut, sehr rein und sehr kalt. Thal spürt, wie entlang sys Wirbelsäule kaltes Feuer direkt ins Gehirn aufsteigt.
»Verdammt köstlicher Drink«, sagt Tranh. »Damit wurde der Raj errichtet. Mit viel Chinin. Hier!« Ys wendet sich an den Bar-Avatar. »Schauspieler-Wallah! Noch mal zwei davon!«
»Eigentlich sollte ich nicht. Ich muss morgen früh arbeiten, und ich weiß noch gar nicht, wie ich überhaupt zurückkomme«, sagt Thal, aber das Neut drückt ys das kondenswasserschlüpfrige Glas in die Hand, und die Musik trifft den perfekten Beat, und ein Windhauch zieht durch die Tempelruine. Flammen und Schatten lodern, und alle blicken auf und fragen sich, ob es die erste sanfte Berührung des Monsuns ist. Er weht
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