Cyberabad: Roman (German Edition)
anhält.
»Das sieht sehr nach einer Pranayama-Technik aus.«
»Es ist russisch, aus der Zeit, als sie kein Geld hatten, um sich Asthma-Medikamente zu kaufen.« Thomas Lull beobachtet Kij. »Und noch einmal. Es ist eine sehr einfache Theorie, wenn man akzeptiert, dass alles, was wir über das Atmen gelernt haben, völlig falsch ist. Nach Dr. Buteyko ist Sauerstoff Gift. In dem Moment, wo wir auf die Welt kommen, fangen wir an zu rosten. Asthma ist eine Reaktion des Körpers gegen die Aufnahme dieses giftigen Gases. Aber wir ziehen herum wie große Wale mit weit aufgerissenem Maul und nehmen Unmengen von brennendem O 2 auf und reden uns ein, dass es uns guttut. Mit der Buteyko-Methode wird einfach nur das Gleichgewicht zwischen O 2 und CO 2 wiederhergestellt. Und wenn das bedeutet, dass man seinen Lungen Sauerstoff vorenthalten muss, damit sich ein gesunder Vorrat an Kohlendioxid aufbauen kann, dann tut man genau das, was Kij gerade tut. Und einatmen.« Mit blassem Gesicht wirft Kij den Kopf zurück und wölbt den Bauch vor, während sie inhaliert. »Okay, jetzt normal atmen, aber nur durch die Nase. Wenn Sie in Panik geraten, halten Sie ein paarmal den Atem an. Aber öffnen Sie nicht den Mund. Durch die Nase, immer nur durch die Nase.«
»Das kommt mir verdächtig einfach vor«, bemerkt Dr. Ghotse.
»Die besten Ideen sind immer die einfachsten«, erwidert Thomas Lull, der Barnum der Atmologie.
Nachdem er Dr. Ghotse auf seinem quietschenden Dreirad verabschiedet hat, bringt Thomas Lull das Mädchen zu ihrem Hotel. Lastwagen und Maruti-Mikrobusse rollen über die gerade weiße Straße und dudeln mit Mehrfachhupen. Thomas Lull hebt die Hand, wenn er einen Fahrer wiedererkennt. Er sollte gar nicht hier sein. Er hätte sie mit einem freundlichen Lächeln verabschieden sollen, um mit seiner Reisetasche zum Busbahnhof zu marschieren, sobald sie außer Sichtweite war. Und warum sagt er nun: »Sie sollten morgen zu einer weiteren Session wiederkommen. Es dauert eine Weile, bis man die Technik richtig beherrscht.«
»Ich glaube nicht, Professor Lull.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass sie dann nicht mehr hier sein werden. Ich habe die Tasche auf Ihrem Bett gesehen. Ich glaube, Sie werden noch heute abreisen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich Sie gefunden habe.«
Thomas Lull sagt nichts. Er denkt: Kannst du meine Gedanken lesen? Ein Einbaum mit gurgelndem Alkoholmotor trägt ordentlich gekleidete Schulkinder über den Backwater-Kanal zur Landestelle.
»Ich glaube, Sie möchten wissen, wie ich Sie gefunden habe«, sagt Kij sanft.
»Wirklich?«
»Ja. Denn es wäre für Sie jederzeit einfacher gewesen zu gehen, aber Sie sind immer noch hier.« Sie bleibt stehen, und ihr Blick folgt einem dolchschnäbligen Vogel mit wilden Augen, der von der pastellblauen Kirche von St. Thomas durch die Palmen herabgleitet, deren Stämme mit weiß-roten Streifen bemalt sind, um den Verkehr zu warnen. Dann lässt er sich am Rand eines Floßes aus Koprahülsen nieder, die im Wasser aufweichen. »Ein Paddyreiher aus der Gattung der Schopfreiher, Ardeola grayii «, sagt sie, als würde sie ihre Worte zum ersten Mal hören. »Hm.« Sie geht weiter.
»Offenbar möchten Sie, dass ich danach frage«, sagt Thomas Lull.
»Falls das eine Frage ist, lautet die Antwort: Ich habe Sie gesehen. Ich wollte Sie finden, aber ich wusste nicht, wo Sie waren, also haben die Götter mich hier nach Thekkady zu Ihnen geführt.«
»Ich bin in Thekkady, weil ich nicht von Göttern oder sonst wem gefunden werden möchte.«
»Dessen bin ich mir bewusst, aber ich wollte Sie nicht finden, weil Sie Professor Lull sind. Ich wollte Sie wegen dieser Fotografie finden.«
Sie öffnet ihren Palmer. Trotz des Sprenkelschattens der Palmen ist das Sonnenlicht sehr stark und das Bild ausgebleicht. Es wurde an einem hellen Tag wie diesem aufgenommen. Drei blinzelnde Abendländer vor dem Padmanabhaswamy-Tempel in Thiruvananthapuram. Ein schmächtiger Mann mit bleicher Haut und eine südindische Frau. Der Mann hat einen Arm um die Hüfte der Frau gelegt. Der andere ist Thomas Lull, der grinsend in Hawaii-Hemd und unmöglichen Shorts dasteht. Er kennt das Foto. Es wurde vor sieben Jahren geschossen, nach einer Konferenz in New Delhi, als er sich einen Monat freinahm, um die Staaten des neu geteilten Indiens zu bereisen, eine Landmasse, die ihn schon immer zu gleichen Teilen fasziniert, abgestoßen und angezogen hat. Die Widersprüche von Kerala hielten ihn eine Woche
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