Cyberabad: Roman (German Edition)
Universität wachhielt. Sie setzte Thomas Lull vor seinem weitläufigen grünen Anwesen draußen in der Vorstadt ab.
»Wir sehen uns«, flüsterte sie. Um drei Uhr morgens erwartete sie natürlich keinen Kuss. Als sie auf ihre Veranda trat und die Fliegengittertür öffnete und ihre Tasche im Flur fallen ließ, riss der körperliche Schock sie um wie ein Schwerlaster. Sie steuerte ihr großes Bett an. Ihr Palmer meldete einen Anruf. Sie überlegte, gar nicht ranzugehen. Es war Lull.
»Könntest du rüberkommen? Etwas ist passiert.«
So hatte seine Stimme noch nie geklungen. Erschrocken fuhr sie durch den ergrauenden frühen Morgen. An jeder Kreuzung beschwor ihre Phantasie neue Katastrophen und Möglichkeiten herauf, aber im Hintergrund stand die ganze Zeit ihre Hauptangst, dass man ihnen auf die Schliche gekommen war. Alle Lichter waren aus, und die Türen standen offen.
»Hallo Haus?«
»Hier drinnen.«
Er saß auf dem alten Ledersofa, das sie von Grillpartys der Fakultät und sonntäglichen Sportveranstaltungen kannte. Das Sofa und zwei Bücherregale waren die einzigen Möbel im Zimmer. Der Rest war vollständig ausgeräumt worden. Der Fußboden war nackt, an den Wänden hingen Bilderhaken wie umgekehrte spanische Fragezeichen.
»Sogar die Katzen«, sagte Thomas Lull. »Einschließlich der Spielzeugmäuse. Kannst du dir das vorstellen? Die Spielzeugmäuse! Du solltest das Arbeitszimmer sehen. Damit hat sie sich viel Zeit genommen. Sie hat sämtliche Bücher, Disks und Akten einzeln gecheckt. Ich vermute, es geht gar nicht so sehr darum, eine Frau zu verlieren, sondern eine Sammlung von italienischen Lieblingsopern.«
»Hast du ...?«
»Irgendwas geahnt? Nein. Ich bin hereinspaziert, und das war alles, was ich gesehen habe. Und das hier habe ich gefunden.« Er hob einen Zettel auf. »Die üblichen Sachen, hat nicht mehr funktioniert, tut mir leid, aber es geht nicht anders. Versuch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Sie hatte den Mumm, sich aufzuraffen und alles ohne Vorwarnung auszuräumen, aber wenn es um den herzlichen Abschied geht, bedient sie jedes verdammte Klischee aus dem Lehrbuch. Das ist so typisch.«
Inzwischen zitterte er.
»Thomas. Komm mit. Du kannst hier nicht bleiben. Komm mit zu mir.«
Er sah sie verdutzt an, dann nickte er.
»Ja, danke, ja.«
Lisa nahm seinen Koffer und dirigierte ihn zum Wagen. Plötzlich kam er ihr sehr alt und unsicher vor. Zu Hause machte sie ihm einen heißen Tee, den er trank, während sie das Gästebett herrichtete, aus reiner Rücksichtnahme.
»Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte Thomas Lull. »Könnte ich in deinem Bett schlafen? Ich möchte jetzt nicht allein sein.«
Er lag zusammengerollt mit dem Rücken zu Lisa Durnau. Gestochen scharfe Bilder des entweihten Zimmers mit Lull, der so winzig wie ein kleiner Junge auf dem Sofa eines großen Mannes saß, ließen Lisa jedes Mal aus dem Schlaf hochschrecken, kaum war sie weggenickt. Schließlich schlief sie doch ein, als das Grau des Morgens ihr großes Schlafzimmer ausfüllte.
Fünf Tage später, nachdem jeder ihm gesagt hatte, dass sie eine blöde Zicke war und wie gut es ihm gehen würde und dass er darüber hinwegkommen und wieder glücklich sein würde und er immer noch seine Arbeit/Freunde/sich selbst hatte, verschwand Thomas aus den realen und virtuellen Welten – ohne ein Wort, ohne jede Vorwarnung. Lisa Durnau sah ihn nie wieder.
»Sie werden mir verzeihen, aber diese Asthma-Therapie kommt mir reichlich unorthodox vor«, sagt Dr. Ghotse.
Kijs Gesicht ist knallrot, ihre Augen treten hervor, ihre Finger zucken. Ihre Tilaka scheint zu pulsieren.
»Nur noch ein paar Sekunden«, sagt Thomas Lull. Er wartet, bis sie nicht mehr kann, und dann noch eine Sekunde länger. »Okay, jetzt einatmen.« Kij öffnet den Mund, um ekstatisch keuchend nach Luft zu schnappen. Thomas Lull legt die Hand darüber. »Durch die Nase. Immer durch die Nase. Nicht vergessen: die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen.«
Er zieht die Hand zurück und beobachtet, wie sich ihr kleiner runder Bauch langsam aufbläht.
»Wäre es nicht einfacher, Medikamente zu nehmen?«, wirft Dr. Ghotse dazwischen. Er hält eine kleine Kaffeetasse sehr vorsichtig mit beiden Händen.
»Der Sinn dieser Methode«, sagt Thomas Lull, »liegt darin, nie wieder auf Medikamente angewiesen zu sein. Und anhalten.«
Dr. Ghotse mustert Kij, wie sie erneut die Lungen leert, indem sie langsam und pfeifend durch die Nase ausatmet und wieder die Luft
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