Cyberabad: Roman (German Edition)
und im Geheimen stattfand, konnte Lisa ihren Phantasien freien Lauf lassen.
Es hatte in Paris begonnen, in der Abflughalle im Terminal 4 von Charles des Gaulle. Der Flug nach O’Hare war verspätet. Ein Fehler der Flugsicherung in Brüssel hatte sich bis zu den Flugzeugen an der Ostküste ausgewirkt. BAA 142 stand mit vier Stunden Verspätung auf der Anzeigetafel. Lisa und Lull hatten soeben eine intellektuell zermürbende Woche hinter sich gebracht, in der es darum gegangen war, das lullistische Argument, dass Realität und Virtualität sinnlose Chauvinismen waren, gegen heftige Angriffe durch eine Gruppe von französischen Neorealisten zu verteidigen. Jetzt wollte Lisa Durnau nur noch auf ihre Veranda treten und nachsehen, ob Mr. Cheknavorian von nebenan die Kräuter gegossen hatte. Auf der Tafel klickte die Anzeige auf sechs Stunden. Lisa stöhnte. Sie hatte ihre E-Mails geschrieben. Sie hatte ihre finanziellen Transaktionen erledigt. Sie hatte Alterre einen Kurzbesuch abgestattet, das gerade eine Ruhephase zwischen Ausbrüchen punktualistischer Evolution durchmachte. Es war drei Uhr morgens, und in der Langeweile und Müdigkeit und Dislokation im Schwebezustand der hell erleuchteten Lounge zwischen den Staatsgebieten lehnte Lisa Durnau den Kopf gegen Thomas Lulls Schulter. Sie spürte, wie er sich bewegte und sie ihn küsste. Als Nächstes schlichen sie zu den Flughafenduschen. Ein Angestellter reichte ihnen zwei Handtücher und flüsterte Vive le sport .
Sie mochte es, mit Thomas Lull zusammen zu sein. Er war unterhaltsam, er konnte reden, und er hatte einen angenehmen Sinn für Humor. Sie hatten vieles gemeinsam, Werte und Glaubensvorstellungen. Filme, Bücher. Essen, die legendären mexikanischen Mittagsmahlzeiten am Freitag. All das war so weit entfernt von einem Fick in Hündchenstellung an den feuchten Fliesen einer Duschkabine im Terminal 4, aber eigentlich gar nicht so weit weg. Die Liebe begann doch meistens in der Nachbarschaft. Man schwärmte für das, was man jeden Tag sah. Den Jungen auf der anderen Seite des Zauns. Den Kollegen am Wasserspender. Den andersgeschlechtlichen Freund, mit dem man sich schon viele Jahre gut verstanden hatte. Ihr war klar, dass sie schon immer etwas für Thomas Lull empfunden hatte. Sie war nur nie imstande gewesen, dem Ganzen einen Namen zu geben oder in eine Handlung umzusetzen, bis die Erschöpfung und die Frustration und die Dislokation sie aus ihrer Lisa-Durnau-heit gerissen hatten.
Er hatte andere gehabt. Sie kannte alle Namen und etliche Gesichter. Er hatte ihr davon erzählt, wenn sie zu ihren Partnern und Familien zurückgekehrt waren und nur sie beide bei einem Krug Margarita zusammensaßen und die Öllampen herunterbrannten. Niemals Affären mit Studentinnen, dazu war seine Frau auf dem Campus zu bekannt. Normalerweise nur für eine Nacht auf einer Konferenz. Einmal eine E-Mail-Affäre mit einer Schriftstellerin aus Sausalito. Und nun war sie die nächste Kerbe im Bettpfosten. Wo es enden würde, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatten es weiterhin mit den Duschkabinen.
Nach dem Essen und den Getränken lösten sie sich von den Gesprächsknäueln und liefen über die Cherwell-Brücken zum billigeren Ende der Stadt. Hier gab es Studentenkneipen, die noch nicht der Vergesellschaftung anheimgefallen waren. Aus einem Pint wurden zwei, dann drei, weil der Laden sechs Guest Real Ales im Angebot hatte.
Während des vierten hielt er inne und sagte: »L. Durnau.« Sie liebte es, wenn er sie so nannte. »Falls mir irgendetwas zustoßen sollte, ich weiß nicht was, was auch immer passiert, wenn die Leute sagen, dass einem ›etwas zustößt‹, würdest du dich dann um Alterre kümmern?«
»Um Himmels willen, Lull.« Das war ihr Name für ihn. Lull und L. Durnau. Zu viele Ls und Us. »Machst du dir konkrete Sorgen? Hast du vielleicht etwas ...?«
»Nein nein. Ich denke nur weiter, man weiß ja nie. Ich vertraue darauf, dass du die Sache richtig weiterführen wirst. Tu etwas, wenn sie Scheiß-Coca-Cola-Werbung auf die Wolken kleben wollen.«
Den Rest der Guest Ales schafften sie nicht. Als sie durch die warme, lärmende Nacht zu den Studentenwohnheimen zurückliefen, sagte Lisa Durnau: »Ja, mach ich. Wenn du die Fakultät überzeugen kannst, werde ich mich um Alterre kümmern.«
Zwei Tage später erreichten sie Kansas City mit dem letzten Nachtflug, und das Personal machte nach ihnen den Flughafen zu. Es war nur der Jetlag, der Lisa Durnau auf der Fahrt zur
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