Cyberabad: Roman (German Edition)
länger als geplant gefangen, die Parfümmischung aus Staub, Moschus und von der Sonne versengten Kokosmatten, die Haltung uralter Überlegenheit gegenüber dem kastengeplagten Norden, die dunklen, übelriechenden, chaotischen Götter und ihre blutigen Rituale, die langwierige und erfolgreiche Erkenntnis der politischen Wahrheit, dass der Kommunismus ein Gesellschaftssystem des Überflusses und nicht der Knappheit war, das ständig wechselnde Treibgut aus Schätzen und Reisenden.
»Kann nicht abstreiten, dass ich das bin«, gesteht Thomas Lull ein.
»Erkennen Sie auch das andere Paar wieder?«
Thomas Lulls Herz macht einen Satz. »Irgendwelche Touristen«, lügt er. »Wahrscheinlich haben sie ein Foto, das genauso aussieht. Sollte ich sie kennen?«
»Ich glaube, dass sie meine natürlichen Eltern sind. Sie sind es, die ich suche. Sie sind der Grund, warum ich die Götter gebeten habe, mich zu Ihnen zu führen, Professor Lull.«
Jetzt bleibt Thomas Lull abrupt stehen. Ein Lastwagen, der mit Bildern von Shiva mitsamt seiner Frau und seinen Söhnen dekoriert ist, rollt in einer Wolke aus Staub und Filmi-Musik aus Chennai vorbei.
»Wie sind Sie an dieses Foto gekommen?«
»Es wurde mir an meinem achtzehnten Geburtstag geschickt, von einer Anwaltskanzlei in Varanasi, in Bharat.«
»Und Ihre Adoptiveltern?«
»Sie stammen aus Bangalore. Sie wissen, was ich tue. Sie haben mir ihren Segen gegeben. Ich habe schon immer gewusst, dass ich adoptiert wurde.«
»Haben Sie irgendwelche Fotos von ihnen?«
Sie ruft eine Aufnahme von einem verspielten Teenager auf. Das Mädchen sitzt auf den Stufen einer Veranda, hat die Knie züchtig zusammengepresst und die Hände um die Unterschenkel geschlungen, um ihre Jungfräulichkeit zu verbarrikadieren. Sie trägt keine Vishnu-Tilaka. Hinter ihr stehen ein Mann und eine Frau, beide offensichtlich aus Südindien, beide Ende vierzig und im westlichen Stil gekleidet. Sie wirken wie Menschen, die immer offen und ehrlich und westlich mit ihrer Tochter umgegangen sind und niemals versucht haben, sich in ihre Reise der Selbstfindung einzumischen. Er wechselt zurück zum Tempelfoto.
»Und das hier sind Ihre biologischen Eltern, sagen Sie?«
»Ich glaube es.«
Unmöglich , möchte Thomas Lull erwidern. Aber er schweigt, obwohl das Schweigen ihn in Lügen verstrickt. Nein, du verstrickst dich selbst in Lügen, wohin du dich auch wendest, Thomas Lull. Dein ganzes Leben besteht aus Lügen.
»Ich habe keine Erinnerung an sie«, sagt Kij. Ihre Stimme ist ausdruckslos und neutral, genauso wie die Sonnenbrille, die sie trägt. Im gleichen Tonfall könnte sie ein Steuerformular erklären. »Als ich das Foto erhielt, empfand ich gar nichts. Aber ich habe eine Erinnerung, die so alt ist, dass sie fast wie ein Traum wirkt. Es geht um ein galoppierendes weißes Pferd. Es kommt zu mir, dann bäumt es sich auf, die Hufe in die Luft gereckt, als würde es tanzen, nur für mich. Oh ja, ich sehe es ganz deutlich. Ich liebe dieses Pferd sehr. Ich glaube, das ist das Einzige, das mir aus dieser Zeit geblieben ist.«
»Keine weiteren Erklärungen von diesen Anwälten?«
»Nein. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen. Aber wie es scheint, können Sie das nicht. Also werde ich nach Varanasi gehen und die Kanzlei ausfindig machen.«
»Dort wird gerade ein Krieg vorbereitet.«
Kij runzelt die Stirn. Ihre Tilaka legt sich in Falten. Thomas Lull spürt, wie sich sein Herz wendet.
»Dann werde ich darauf vertrauen, dass die Götter mich vor Schaden bewahren«, erklärt sie. »Sie haben mir anhand dieses Fotos gezeigt, wo Sie sind, und sie werden mich auch durch Varanasi führen.«
»Das scheinen ziemlich nützliche Götter zu sein.«
»Oh ja, Professor Lull. Sie haben mich noch nie im Stich gelassen. Sie sind wie eine Aura, die Menschen und Dinge umgibt. Natürlich habe ich einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass nicht jeder sie sehen kann. Ich dachte, dass es nur eine Frage des Anstands ist, dass sie alle gelernt haben, nicht zu sagen, was sie wissen, und dass ich ein sehr ungezogenes Mädchen bin, das alles herausposaunt, was es sieht. Dann habe ich begriffen, dass sie sie wirklich nicht sehen können und nichts wissen.«
Als zerlumpter Siebenjähriger hatte William Blake in London eine Platane gesehen, in der es von Engeln wimmelte. Nur die Intervention seiner Mutter konnte ihn vor einer Tracht Prügel von seinem Vater bewahren. Mutmaßungen und Lügen. Ein Lebensalter später hatte der
Weitere Kostenlose Bücher