Cyclop
»Dirk?«
Zur allgemeinen Beruhigung stellte sich heraus, daß Giordino relativ wenig abbekommen hatte. Nur seine Schulter war ausgerenkt. Pitt blieb nichts anderes übrig, als sich auf seine Sanitäterausbildung zu besinnen. Er schaffte es, das Gelenk mit einem geübten Griff wieder einzurenken. Dann stolperten sie weiter. Diesmal führte Pitt sie. Er folgte der Straße nach rechts, ohne daß er dafür einen bestimmten Grund hätte angeben können. Wenigstens fiel ihnen das Gehen etwas leichter. Sie mußten nicht mehr durch tiefen Sand waten und über umgestürzte Palmen stolpern. Aber sie bewegten sich durch völlige Dunkelheit und konnten kaum eine Hand vor Augen sehen.
Nach einer Zeit, die Pitt wie mindestens eine Stunde vorkam, schienen sie kaum weiter als eine Meile gekommen zu sein. Er wollte gerade eine Rast anordnen, als Giordino plötzlich stehenblieb. »Da wird gegrillt!« brüllte er. »Riecht ihr das nicht? Jemand brät Fleisch.«
Pitt schnupperte in der Luft. Das Aroma war kaum wahrnehmbar, aber es war tatsächlich da.
Er zerrte Giordino weiter. Der Geruch von gegrillten Steaks wurde mit jedem Schritt stärker.
Nach fünfzig Metern hatten sie ein massives Stahltor erreicht, dessen Gitter tanzende Delphine aus Schmiedeeisen zierten. Eine hohe Mauer, von Glassplittern gekrönt, erstreckte sich nach beiden Seiten. Direkt neben dem Tor gab es ein Pförtnerhaus. Allerdings war es leer, was bei dem Hurrikan niemanden überraschte. Das Tor selbst war verschlossen, aber die äußere und die innere Tür des Pförtnerhauses ließen sich ohne weiteres öffnen. Also gingen
sie
hinein.
Wenige Meter weiter endete die Straße an einem runden Platz, an dessen anderem Ende sich etwas befand, was in der stürmischen Nacht wie der Eingang zu einer riesigen Gruft wirkte.
Als sie näher kamen, erkannten sie eine kastenförmige Anlage, deren Dach und drei Seiten von Sand und Gebüsch bedeckt waren. Nur die Vorderseite sah wie ein Gebäude aus, eine Betonwand ohne Fenster, in die eine kunstvoll verzierte riesige Mahagonitür eingelassen war.
»Sieht mir aus wie ein halb vergrabener ägyptischer Tempel«, knurrte Gunn.
»Wenn es nicht dieses schöne Tor gäbe«, sagte Pitt, »würde ich das eher für eine Art Militärdepot halten.«
Jessie wußte Bescheid: »Ein unterirdisches Haus. Die Erde dient zur Isolation gegen die Hitze und das Wetter. Ich kenne einen Architekten, der sich auf solche Anlagen spezialisiert hat.«
»Sieht verlassen aus«, bemerkte Giordino.
Pitt lehnte sich gegen die Tür. Sie schwang langsam auf. Der Geruch nach Essen verstärkte sich noch.
»Riecht aber nicht verlassen«, meinte Pitt.
Sie betraten einen leeren Vorraum, und Pitt zog die Tür hinter ihnen zu. Das Heulen des Sturmes draußen und ihre keuchenden Atemzüge schienen auf merkwürdige Weise die Stille im Inneren des Hauses nur noch zu steigern. »Irgend jemand zu Hause?« rief Pitt laut.
Er wiederholte die Frage mehrmals, aber die einzige Antwort war eine geisterhafte Stille. Sie zögerten, einfach in den nächsten Korridor hineinzumarschieren. Ein anderer Geruch mischte sich in den Duft des gegrillten Fleisches. Tabakrauch.Stärker als die tödlichen Abgase von Admiral Sandeckers Zigarren. Pitt war kein Experte, aber er wußte, daß teure Zigarren noch widerlicher rochen als billige. Er nahm an, daß der Tabakgeruch von den teuersten Havannas stammte.
Er wandte sich an die anderen. »Was meint ihr?«
»Haben wir eine Wahl?« murmelte Giordino dumpf.
»Zwei«, erwiderte Pitt. »Wir können entweder wieder hinauswandern und es im Hurrikan versuchen. Wenn er nachläßt, beschaffen wir uns ein Boot und versuchen, zurück nach Florida zu kommen …«
»Oder wir liefern uns der Gnade der Kubaner aus«, unterbrach Gunn ihn.
»So sieht’s aus.«
Jessie schüttelte den Kopf und blickte sie aus ihren weichen, gefühlvollen Augen an. »Wir können nicht zurück«, meinte sie ruhig ohne jede Angst. »Der Sturm braucht Tage, bis er sich gelegt hat, und keiner von uns ist in der Verfassung, dort draußen mehr als ein paar Stunden zu überleben. Ich bin dafür, wir versuchen es mit Castro. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß sie uns ins Gefängnis stecken, bis man aus Washington einen Unterhändler schickt.«
Pitt sah zu Gunn hinüber. »Rudi, was meinst du?«
»Wir sind fertig, Dirk. Jessie hat die Logik auf ihrer Seite.«
»Al, siehst du es auch so?«
Giordino zuckte mit den Achseln. »Wenn du es sagst, schwimme ich
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