Cypherpunks
gibt fünf Textversionen, über drei Jahre verteilt, diekonnten wir nehmen und Absatz für Absatz, Zeile für Zeile durchgehen, um zu erklären, welche Folgen sie im Einzelnen haben würden, hinter welchen die Forderungen der Industrie steckten. Wir konnten Experten zu rechtlichen und technologischen Fragen beteiligen und eine politische Geschichte erzählen, die sich von der offiziellen unterschied: »Ach, wir brauchen ACTA, um die Kultur zu retten und Kinder vor gefälschten Medikamenten zu bewahren« und dergleichen mehr. Und so haben wir unsere eigene politische Linie in Internetzeit gezogen, mit genauen Analysen, mit harter Arbeit, mit der Vernetzung von Leuten, damit sie sich daran beteiligen konnten.
JULIAN: Das stimmt, und ich glaube, diese Sicht von ACTA hat die Öffentlichkeit für sich gewonnen.
JÉRÉMIE: So weit, so gut.
JULIAN: So wird wohl das historische Urteil ausfallen, aber hinter den Kulissen ist dieses sogenannte Abkommen gegen Produktpiraterie, das von der amerikanischen Urheberrechtsindustrie angeleiert worden ist, tatsächlich in eine ganze Menge bilateraler Abkommen eingegangen, in dem Bestreben, eine neue internationale Ordnung zu schaffen, was im Hinblick auf Veröffentlichungen legal und was nicht legal ist, und welche Mechanismen es gibt, um die Leute daran zu hindern, verschiedene Dinge zu publizieren. Es standardisiert eine schärfere Version des amerikanischen Urheberrechtsgesetzes von 1998 (Digital Millennium Copyright Act). Wenn man danach jemandem eine Abmahnung schickt, etwas aus dem Internet zu nehmen, muss der Betreffende dem Folge leisten, und es gibt so ein zweiwöchiges Verfahren, in dem man Gegenargumente vorbringen kann und so weiter, aber weil Internetdienstanbieter, die Inhalte veröffentlichen, die Kosten der Auseinandersetzung scheuen, nehmen sie die Sachen sofort aus dem Netz und überlassen es dem Autor oder demjenigen, der es hochgeladen hat, sich dagegen zu wehren. Die Wirkung in den USA war ziemlich heftig, es wurde eine Fülle von Inhalten entfernt. Scientology hat diese Möglichkeit missbraucht, um wortwörtlich Tausende von Videos von YouTube zu entfernen. 80
Nehmen wir einmal an, dass ACTA im Europäischen Parlament erledigt ist, zumindest in dieser Form. Aber die wichtigen Entwicklungen von ACTA scheinen sich so oder so durchzusetzen: Wir hatten die demokratische Debatte, ACTA wurde in der öffentlichen Sphäre dämonisiert, wir haben uns im Diskurs durchgesetzt, aber hinter den Kulissen sind geheime bilaterale Abkommen vereinbart worden, die dieselben Resultate erzielen: Der demokratische Prozess wurde schlicht unterlaufen. WikiLeaks ist zum Beispiel an das geplante Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Indien gelangt und hat es veröffentlicht, und darin eingegangen sind große Batzen von ACTA. 81 Das ist bei einer Reihe anderer Abkommen und anderen Gesetzen geschehen. Der Kopf von ACTA mag abgeschlagen sein, aber der Rumpf könnte sich sehr wohl in ein paar neue Wurmfortsätze teilen, die sich alle in die Realität hineinwinden, in die internationale Ordnung in Form all dieser bilateralen Verträge. Da kannst du also deine demokratischen Siege haben, die sich in der Öffentlichkeit abspielen, an der Oberfläche, aber im Untergrund werden die Dinge trotzdem in dieser Weise geregelt; Obwohl du dem Gegner auch nicht freie Bahn lassen kannst, denn dann drückt er nur umso mehr auf die Tube. Es ist also wichtig, sie auf verschiedene Art und Weise in Schach zu halten, während ACTA gestoppt ist. Das bremst sie ab. Aber selbst ein Sieg im Parlament in Bezug auf die Gesetzgebung setzt dem Treiben hinter den Kulissen kein Ende.
JACOB: Eine Sache, die man meiner Meinung nach hervorheben sollte, ist, dass Roger Dingledine, einer der Schöpfer von Tor, den ich als eine Art Mentor bezeichnen würde, dem ich viele Anregungen über die Umgehung von Zensurmaßnahmen und über Online-Anonymität verdanke, darüber spricht, wie Firewalls zum Beispiel nicht bloß technisch erfolgreich sind – und es ist wichtig, die Technologie dahinter zu verstehen, wenn du Technologie entwickeln willst, die sie überlisten soll –, sondern auch gesellschaftlich. Menschen, die gegen ACTA kämpfen, nutzen Technologie, und diese versetzt sie in die Lage, Widerstand zu leisten, da ist Technikgelaber nicht die Hauptsache. Worauf es ankommt, ist, dass sich die Leute wirklich in den Diskurs einschalten und ihn verändern, solange sie noch die Macht dazu haben, und dieser
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