Cyrion
nicht? Fandet Ihr sie nicht schön?«
Der kleine Mund stülpte sich nach innen und tauchte feucht und lüstern wieder auf. »Sie war - gut gebaut. Aber ich habe es. bereits erklärt. Ich befolge den Zölibat und kann mich beherrschen.«
»Wie«, wunderte es Cyrion, »gelang es ihr denn überhaupt, an Euch heranzukommen?«
»Oh, sie kam zu mir in meiner Eigenschaft als Arzt - ich behandle jeden, der zu diesem Haushalt gehört, auch die Diener - und behauptete, sie hätte Kopfschmerzen oder ihr Puls ginge zu schnell. Nach den ersten Untersuchungen, als ich merkte, worauf sie hinauswollte, wurde ich vorsichtig. Obwohl sie sich mir immer wieder näherte.«
»Bemerkenswert. Und wann fand die letzte ihrer aussichtslosen Angriffe auf Eure Tugend statt?«
»Am Tag vor ihrem Tod. Die übliche Geschichte. Sie legte meine Hand an ihre Brust, bevor ich sie zurückziehen konnte.« Naldinus atmete schwer. »Es fiel mir leicht, sie abzuweisen.«
»Trotz Eurer Behandlung starb sie an dem Gift. Hat Euch das beunruhigt?«
»Nein, ich tat mein Bestes, aber der - der Verfall war schon zu weit fortgeschritten. Ich war machtlos.«
»Wie schade«, sagte Cyrion.
Er stand auf und reckte sich wie ein Katze. Die vier lebenden Personen in der Grabstätte und vielleicht auch die fünfte, tote, warteten in einer erdrückenden neuen Stille.
»Ich habe«, verkündete Cyrion, »nur noch eine einzige Frage. Sie betrifft euch alle.«
Jolan, der sich aufgerichtet hatte und den Kopf in die Hand stützte, sagte dumpf:
»Dann solltet Ihr sie stellen.«
»Es wurde gesagt«, meinte Cyrion, »daß ich nicht der erste Spaziergänger bin, den ihr dazu gezwungen habt, über euch zu richten. Was ich wissen möchte, ist: Wie viele waren es?«
Radri schnappte: »Darüber braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Es genügt zu wissen, daß sie zu einem falschen Ergebnis kamen. Und dafür bezahlten.«
»Wenn ich Euch versichere«, meinte Cyrion mit grenzenloser Geduld, »daß die Antwort auf meine Frage in hohem Maß meine Entscheidung beeinflußt, könntet Ihr Euch dann entschließen, es mir zu verraten?«
Jolan stand auf. Er starrte Cyrion erregt an und stieß trotzig hervor: »Legt Ihr Wert auf eine genaue Zahl? Es waren - über vierzig.«
Cyrion nickte. »Das genügt.« Er setzte sich wieder. »Und jetzt bin ich bereit, Euch die Identität des Mörders zu verraten.«
»Beginnen will ich damit«, sagte Cyrion, »daß Marival meiner Meinung nach alles das war, wofür Sabara sie hielt, und vielleicht mehr. Aber eine Frau, die trotz großer Schönheit so wenig Selbstvertrauen besitzt, daß sie sich getrieben fühlt, auf jeden, der in ihre Nähe kommt, Jagd zu machen und sein Leben zu zerstören, sollte man eigentlich bemitleiden und nicht hassen. Andererseits, wenn Euch jemand dieses Schicksal auferlegt hat, diese verzweifelte und endlose Suche nach der Wahrheit, dann war sie es. Denn sie ist frei, und Eure Qualen dauern an. Das war ihr letzter Trumpf, ein letzter Beweis für ihre Macht über Euch. Ihr seid immer noch ihre Sklaven. Und sie hat dafür gesorgt, daß nicht nur der Mord an ihr Euer Gewissen belastet, sondern zahllose andere - die glücklosen Richter, die Ihr getötet habt, wenn es ihnen nicht gelang, das Rätsel zu lösen und Euch von Schuld und Unentschlossenheit zu befreien. Wie die Nomaden sagen, auf der Suche nach dem zerbrochenen Ziegel habt Ihr die Mauer niedergerissen.
Aber jetzt werde ich Euch die wirkliche Geschichte dieses Nachmittags erzählen und der Nacht, in der Marival starb.
Am Nachmittag erzwang Radri sich Zutritt zu Marivals Zimmer. Sie war nervös und wollte sich nicht auf ihr gewohntes Spiel einlassen, und es gab einen Wortwechsel. Im Verlauf dieses Wortwechsels teilte die Lady dem Verwalter mit, daß sie seiner Dienste nicht mehr bedürfe, da für sie eine reiche Heirat mit einem Mann aus ihren eigenen Kreisen geplant sei. Radri, der schon seit einiger Zeit gewittert hatte, daß sie bald versuchen würde, ihn loszuwerden, verspürte den Drang, ihr den Hals umzudrehen. Abgesehen von ihren körperlichen Reizen, hatte er sein ganzes Leben damit verbracht, sich in die Gunst der Familie einzuschleichen, da er hoffte, eines Tages nicht nur wie ein Sohn behandelt, sondern tatsächlich als solcher aufgenommen zu werden. Marival war ebenso bereitwillig auf alles eingegangen wie er selbst, und einmal - um die Lauterkeit seiner Absichten zu betonen - hatte er ihr sogar den Vorschlag gemacht, gemeinsam zu fliehen und zu
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