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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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tun? Ich ließ mich von Mitleid blenden und erlaubte ihm, bei uns zu bleiben. Ich muß ein Narr gewesen sein, daß ich glauben konnte, seine Treue zu unserem Haus und Namen wäre größer als die schurkischen Instinkte seiner niederen Herkunft.«
    »Glaubtest du?« donnerte Radri. Er stürzte sich auf Jolan, mit feuerrotem Gesicht und Muskeln, die ein eigenes, mörderisches Leben zu entwickeln schienen. »Und hast du auch geglaubt, wir würden dir deinen albernen Vorwand abnehmen? Seuche! Welche Seuche? Ich habe nichts davon gesehen. Es war eine Lüge, um uns in deine Gewalt zu bringen. Aber selbst da warst du zu schwach, um uns zu beherrschen. Deine Schwester mußte dich bei Laune halten und ich - ich blieb, um Marival zu beschützen, aber ich habe versagt.« Er hatte Jolan am Hals gepackt und machte Anstalten, ihn zu erwürgen. Jolan seinerseits hatte den Dolch gezogen. Sabara wandte steif das Gesicht ab. Cyrion saß unbeweglich da und beobachtete. Es war der heilkundige Priester, Naldinuns, der sich zum Eingreifen bemüßigt fühlte und jedem der beiden Männer eine seiner langen, schlaffen Hände auf die Schulter legte.
    »Nein, nein«, murmelte er salbungsvoll, »nicht jetzt. Ihr dürft jetzt nicht kämpfen. Dieser edle Herr ist bei uns, um ein Urteil zu fällen. Wie kann er urteilen, wenn ihr die Zeit mit Prügeleien vergeudet?«
    Jolan und Radri ließen voneinander ab. Radri warf sich auf ein Ruhelager, zog ein mürrisches Gesicht und rieb sich wie ein Affe die Brust. Jolan nahm seine unterbrochene Wanderung nicht wieder auf, sondern fuhr mit gesenktem Kopf in seiner Berichterstattung fort.
    Fünf Menschen, zusammen eingesperrt, ohne Abwechslung oder die Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen - so hatte das Drama rasch seinen Höhepunkt erreicht. Marival hatte bei einem Wortwechsel ihren ganzen Ekel und ihre Verachtung über Radri ausgeschüttet, was Sabara bis in ihr Zimmer an der anderen Seite des Gartens hatte hören können. Daraufhin war Marival zu Jolan gekommen, weil sie die Rache des lasterhaften Verwalters fürchtete. Jolan kam zu dem Schluß, daß Radri unter allen Umständen das Haus verlassen mußte, und nahm sich vor, ihm das gleich nach dem Abendessen mitzuteilen. Während des Essens aber wurde Marival krank. Um Mitternacht starb sie. Jolan konnte sich nicht verzeihen, daß er nicht früher gehandelt hatte. Er war überrumpelt worden, da er angenommen hatte, Radri würde eher körperliche Gewalt anwenden als seine Zuflucht zu dem hinterhältigeren Gift nehmen. Aber in Naldinus’ Zelle lagerten viele Kräuter und Mittel, von denen manche tödlich waren, und vielleicht besaß der Verwalter einiges Geschick im Aufbrechen von Schlössern. Es wäre ihm nur zu leicht möglich gewesen, ein Körnchen Gift in Marivals Weinbecher fallen zu lassen, während er sie bediente. Da er ihr eine glückliche Heirat mit einem Mann ihres eigenen Standes nicht gönnte, hatte der Elende sie auf die qualvollste und langwierigste Art umgebracht, die er sich nur hatte denken können.
    Jolan begann von neuem zu weinen. Er warf sich auf dasselbe Ruhebett, auf dem auch Radri schmollte, und vergrub sein Gesicht in den Armen und den Kissen.
    »Ich vermute«, bemerkte Sabara und kam hinter der Couch hervor, um vor Cyrion stehenzubleiben, »daß Ihr Euch eine höchst romantische und schme ichelhafte Meinung über meine wunderschöne tote Schwester gebildet habt. Ich bin sicher, Ihr seid kurz davor, Euch in sie zu verlieben, ungeachtet der Tatsache; daß sie eine Leiche ist. Bevor wir in dem Spiel fortfahren, habe ich deshalb den unliebenswürdigen, aber brennenden Wunsch, Euer Bild von ihr zu korrigieren.« Sabara warf einen langen, harten Blick über die Schulter auf die einbalsamierte Frau auf dem Totenbett. Ihre Augen wanderten über die durchscheinenden, lockenden Glieder, die Flut der mitternachtsschwarzen Haare, das zarte Gesicht, das nur darauf zu warten schien, von dem Kuß eines Liebhabers geweckt zu werden. »Sie«, sprach Sabara weiter, »war nichts anderes als ein Dämon. Glaubt Ihr an Dämonen, Herr? Es gibt sie. Lebte sie, noch, würde sie es Euch beweisen. Denn Euch hätte sie um jeden Preis haben müssen.« Sabaras zynische Augen, gesprenkelt von dem Schatten ihrer langen, dichten Wimpern, richteten sich auf Cyrion. »Euer Aussehen, versteht Ihr, hätte sie herausgefordert. Obwohl meine Schwester, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sich um die Aufmerksamkeit eines jeden Mannes bemühte. Gleichgültig,

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