Cyrion
schon mehr als vierzig Richter (obwohl ich glaube, daß die Zahl eher noch zu bescheiden ist) versucht hatten, die Wahrheit herauszufinden. Und selbst wenn es nur vierzig waren, hätte wenigstens einer von ihnen, allein schon durch Zufall, den währen Mörder nennen müssen. Was mich zu der Schlußfolgerung brachte, daß im Laufe der Zeit jeder von Euch einmal beschuldigt worden war. Da Euer Omen dennoch ausgeglichen war, kam ich auf den Gedanken, daß keiner von Euch eine reine Weste hatte.«
»Aber da wir immer noch kein Zeichen erhalten haben«, schnarrte Jolan plötzlich, »seid auch Ihr im Irrtum. Jeder von uns hat sich des Versuchs schuldig gemacht, aber wer ist verantwortlich für den Tod meiner Schwester?«
»Alle, aufgrund der Absicht«, antwortete Cyrion. »Keiner, aufgrund der Tatsachen.«
Ein gemeinsamer Aufschrei ertönte. Selbst Sabara stand auf und starrte ihn an. Selbst der Priester schob sich wieder einen halben Schritt nach vorn.
»Die Ichsucht, fürchte ich«, sagte Cyrion, »war Euer Untergang. Unzählige Jahre habt Ihr unter der unbefriedigten Boshaftigkeit Marivals gelitten. Sie klammerte sich an Eure Schuld und trieb Euch zum Wahnsinn - und alles, weil Ihr nichts anderes in der Welt des Tötens für fähig gehalten habt als nur Euch selbst. Aber es war noch ein Mörder im Haus an jenem Tag. Ich vermute, daß von Euch vieren auch Naldinus es ahnt und es vielleicht schon in der fraglichen Nacht geahnt hat, obwohl man in diesem Fall seine nachfolgenden Handlungen nur als unsinnig tollkühn bezeichnen kann. Aber ich klage nicht an. Nichtsdestoweniger, hätte er Marival an dem Tag vor ihrem Tod untersucht, wie sie es verlangt hat, hätte ihm der Gedanke kommen müssen. Nein, damals hatte sie es nicht auf Eure Tugend abgesehen, Priester, es gab einen Grund für ihre Kopfschmerzen, das heftig schlagende Herz in ihrer Brust. Und für ihre Reizbarkeit am nächsten Tag, ihre Klagen über die Hitze. Meine armen Freunde, während jeder von Euch sie vergiftete, hatte der Tod seine Hand nach ihr ausgestreckt. Marival hatte die Seuche. Es war die Seuche, an der sie auch ganz ohne Eure Einmischung gestorben wäre.«
»Aber ich hatte das Haus verschlossen!« rief Jolan mit unangebrachter und würdeloser Empörung.
»Und bevor Ihr es verschlossen habt, wurden Nahrungs mittel herangeschafft. Ein kranker Bäcker oder Schlachter oder Winzer oder auch ein Händler von Lampenöl.«
»Götter!« sehne Jolan und rang gewaltsam nach Luft. »Götter! Götter!«
Und dann jaulte der Priester auf und sprang mit einem Satz von der Bahre bis zu Sabaras Stuhl.
Denn der wunderschöne Leib der einbalsamierten Frau zerfiel, wurde zu Schnee und Asche und zu einem feinen weißen Puder, das zerschmolz und verging. Nach wenigen Sekunden war von dem herrlichen Körper nichts weiter geblieben als eine kaum erkennbare Druckstelle auf dem bestickten Laken.
»Das Omen?« erkundigte sich Cyrion. »Oder könnte es ein Fehler in der Einbalsamierung gewesen sein?«
Die Morgendämmerung verlieh dem Himmel den warmen Goldton von Sabaras Haar, als Cyrion auf die Straße hinaustrat. Daß sein Abschied von der exzentrischen Familie so rasch vonstatten ging, wie die vorangegangenen Gespräche langwierig gewesen waren, überraschte ihn nicht. Was die versprochene Belohnung anging, so hatte man ihm einen Schlüssel gegeben. An der Nordseite des remusischen Tempels würde er eine Truhe finden. Ein anderer hätte vielleicht geglaubt, man wolle ihn zum besten halten, aber Cyrion wußte sehr gut, daß dem nicht so war.
Marival hatte sie mit ihrem gespenstischen Fluch verfolgt. Seine Augwirkungen waren offensichtlicher als sie ahnten, selbst durch ihre magischen Truggestalten hindurch. Unmittelbar nach ihrer Einbalsamierung Unbehagen, dann Verdächtigungen, Beschuldigungen - und, unausweichlich, Vergeltung. Und nachdem sie sie bis zur Grenze getrieben hatte und darüber hinaus, hatte Marival ihnen noch eine letzte, furchtbare Last aufgebürdet, und nur jemand, der die Lösung des Rätsels fand, konnte sie davon befreien.
Kurz bevor die magische Tür wieder erschien, um ihn hinauszulassen, hatte Cyrion einen letzten Blick zurückgeworfen, auf Naldinus, der auf dem Boden kauerte, auf Radri und Jolan, die sich gegenseitig stützten - es blieb ihnen nur wenig Zeit für diese Erneuerung ihrer Freundschaft, nur bis Sonnenaufgang. Aber sie - auch der Priester - hatten froh ausgesehen, erleichtert darüber, daß nun alles vorüber war. Jolans Stimme
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