Cyrion
Fleckchen weißglühender Sand und oben ein Stück Himmel, an dem die Sonne pulsierte wie ein feuriges, sterbendes Herz. Hin und wieder fiel ein Schatten über ihn, Erfrischung, die sich schnell wieder ins Gegenteil verkehrte. Ein Stein wurde geworfen - das Blut trocknete rasch in der Hitze - jemand rief, eine Nadel kratzte über seine Haut, eine andere wurde unter einen Nagel seiner beringten linken Hand geschoben - sie waren zu stolz, um ihn zu bestehlen - ein Hagel von Tritten und Schlägen, Sand, der in seine Augen geworfen oder zwischen seine Lippen gerieben wurde. Die Nomaden, die in einem grausamen Land lebten, beherrschten die Kunst der Folter vollkommen. Daß es ihm nicht schlimmer erging, verdankte Cyrion einzig der Tatsache, daß er seinen Tod bei vollem Bewußtsein genießen sollte. So viel wußte er. Tatsächlich erriet er jede Grausamkeit, bevor sie begangen wurde. Einige konnte er voraussehen, die ihm noch bevorstanden Der dünne Rand des Bechers, der durch den erstickenden, pulsierenden Dunstschleier an seine Lippen gehalten wurde, das allein überraschte ihn.
»Trink«, sagte eine Frau dicht an seinem Ohr. »Schnell, ehe sie merken, was ich tue.«
Cyrion verschwendete keine Zeit mit Fragen. Er trank das Wasser, das sie klug genug gewesen war, vorher anzuwärmen. Dann öffnete er seine Augen, richtete sich ein wenig auf und blickte durch die langen, langen, sandverklebten Wimpern auf sie herab.
Dicht verschleiert stand die Dämonin vor ihm.
»Ich danke dir«, sagte er. »Und nun? Wirst du mich aus mitleidvollem Herzen befreien?«
»Täte ich das, würde er auch mich töten. Er hat dich da, wo er dich haben wollte. Narr!«
»Warum dann«, murmelte Cyrion, »das Wasser verschwenden?«
»O herrliche Blume«, verhöhnte sie ihn, »um zu sehen wie du wächst und deine Fesseln sprengst.« Cyrions Lippen verzogen sich ein wenig, und sie sagte: »Du hast Macht. Deine Haut ist hell, verbrennt aber nicht -«
»Nein. Ich kenne genug von den Künsten der Nomaden, um mir diese Unannehmlichkeit zu ersparen.«
»Die Macht des Willens.« Sie flüsterte: »Befreie dich. Töte Ysemid.«
»Um augenblicklich von seinen liebenden Anhängern getötet zu werden? Da kann ich auch bis zum Abend warten.«
»Hund von einem Feigling.«
»Überwältigend schöne -«, Cyrion holte Atem - »atemberaubend herrliche - Trinkerin von -«
»Ich werde dich verfluchen«, unterbrach sie ihn. »Wir werden dein Grab finden und es entehren.«
»Wie furchtbar.«
»Stirb also«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Nur eins«, bemerkte er, und sie blieb stehen. »Wird dein Bruder, der König Karuil-Ysem, bei meinem Tod dabeisein?«
»Er muß. Das ist das Gesetz. Du weißt das.«
»Dann«, seufzte Cyrion und sank wieder in sich zusammen, »folge ihm.«
Sofort war sie hellwach. Sie packte seinen Arm und drückte ihre Krallen in die nackte, makellose Haut.
»Warum? Was hast du vor?«
»Um Gottes unerforschlichen Willen«, flüsterte Cyrion,
»kratze oder schlag mich. Fünf Männer beobachten dich.«
Sie knurrte vor Wut. »Wenigstens werde ich dich in deinem Blut sterben sehen, wenn ich auch nicht trinken kann. Das wird meinen Hunger lindern.«
Ihr Zorn vergrößerte sich noch, als er nicht einmal zuckte, als sie ihm die Brust zerkratzte. Dann, den Glasbecher in ihren Kleidern verborgen, lief sie davon.
Als der erste kühle Luftzug dem brennendroten Abendhimmel trotzte, hob der gefesselte Mann nur einmal den Blick und senkte dann wieder den Kopf. Die Kühle war eine Gnade und gleichzeitig das Läuten der Glocke, die seinen Tod ankündigte.
Mit dem Schatten kamen seine Henker.
Ohne ihm die Fesseln abzunehmen, machten sie ihn von dem Pfahl los und zerrten ihn hinter sich her aus dem Lager. Die Augen der Frauen, die vorher bei seinem Anblick weich geworden waren, waren jetzt so hart wie die Steine, die sie nach ihm geworfen hatten. Obwohl es ihnen erlaubt war, ihn zu foltern, durften sie nicht zusehen, wie er starb. Aber sie beklagten sich nicht. Bestimmt konnten sie sich vorstellen, wie es sein würde. Ein Ende, wie der Brauch es vorschrieb, und das würde ziemlich widerwärtig sein.
Die meisten Männer verließen das Lager. Sie wirkten wie eine Schafherde, die ihrem Hirten folgte. Karuil-Ysem ritt auf seinem Pferd, Ysemid ging neben ihm her, ein stolzer Sohn, der seinen Vater vor einem heimtückischen Mörder gerettet hatte.
Die ersten Sterne erschienen an dem roten Himmel, als sie den vorhergesehenen Ort erreichten.
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