D9E - Die neunte Expansion 01: Eine Reise alter Helden (German Edition)
Vorgarten. Ein Bagger steckte halb versunken in einem Sandhaufen. Es war eigentlich zu kalt, um draußen im Dreck zu spielen, aber wenn der Nachwuchs ihres Neffen auch nur ein Quäntchen der Familiengene gerettet hatte, war ihm das herzlich egal.
Sie drückte einen Knopf, unter dem »Sebastian« stand. Der Familienname war nicht weitergegeben worden. Sebastian klang auch besser als Skepz.
Für einen Moment geschah nichts, dann öffnete sich die Tür und ein Mann trat ins Freie. Er war in etwa so groß wie Skepz, etwas dicklich, hatte zurückgehendes Haupthaar – war also nicht eitel, denn das musste heutzutage nicht mehr sein – und trug legere Freizeitkleidung. Er schaute Skepz an, und so, wie sie in seinem Gesicht, in den Augen und an der Form des Schädels ihre eigene Familie zu erkennen glaubte, schien er auch einzusehen, dass er eine Verwandte vor sich hatte, die abzuweisen mindestens schlechter Stil sein würde.
»Kommen Sie herein«, sagte er mit freundlicher Stimme und machte eine einladende Geste, der Skepz nach unmerklichem Zögern folgte.
Das Wohnzimmer, in das sich Skepz setzen durfte, war in seiner Normalität und seinem Stil fast schon schmerzhaft gemütlich und erinnerte sie an die Wohnung ihrer Eltern, damals, vor einer unendlich langen Zeit. Jervais Sebastian war verheiratet – mit zwei Frauen, was schon zu Skepz’ Zeiten unproblematisch war, da Polygamie seit Langem wieder gestattet wurde – und eine der Ehefrauen war ebenfalls anwesend, eine schlanke Blondine mit dunkel geschminkten Augen, die Skepz mit forschender Neugierde ansah.
»Meine Frau Jamaica«, stellte Sebastian sie vor. »Die Kinder sind in der Schule. Wir finden, dass sie unter Leute kommen sollten, und lassen sie nicht zu Hause unterrichten. Außerdem haben wir dann mal etwas Ruhe.« Er lächelte entschuldigend.
»Danke. Es ist sehr freundlich, dass Sie beide mich empfangen.«
Sebastian hob die Schultern.
»Ich habe Sie im TV-Stream gesehen. Sie haben auf vielfache Art und Weise Aufruhr verursacht. Ich wollte Sie kennenlernen.«
»Glauben Sie mir, dass wir verwandt sind?«
Der Mann lächelte und im Lächeln erkannte Skepz die Lippen ihrer Mutter wieder, und dieser Anblick war erneut schmerzhaft vertraut.
»Ich habe es auf die gleiche Art und Weise herausgefunden wie Sie. Die Genealogiedaten der Zentral-KI. Die Daten scheinen nachvollziehbar und korrekt zu sein. Wollen Sie einen DNA-Test machen lassen?«
Skepz hob abwehrend die Hände. »O nein. Ich weiß gar nicht so genau, was ich will. Erst habe ich mir überlegt, gar nicht in Kontakt zu treten. Aber ich versuche, diese Zeit und ihre Menschen zu verstehen. Der Mediator und die Regierungsoffiziellen helfen mir dabei nicht. Ich wollte …«
»… jemand Normales treffen«, erklärte Jamaica Sebastian und lächelte nun auch. »Wir sind schlechte Gastgeber. Etwas zu trinken?«
»Tee vielleicht?«
»Tee also.«
Das Eis schmolz endgültig, als sie alle vor dampfenden Tassen saßen. Sebastian war Logistiker und arbeitete für eines der staatlichen Unternehmen, die für die Bereitstellung des Tributs an die Hondh verantwortlich waren. Da sehr vieles von den KIs erledigt wurde, hatte er meist nicht mehr als vier bis fünf Stunden am Tag zu tun. Jamaica Sebastian war Künstlerin, sie erschuf 3D-Gemälde – oder eher eine Mischung aus Gemälde und Bildhauerei. Skepz kannte diese Kunstform, es gab sie offenbar seit Jahrhunderten. Jamaicas Kunst war sowohl virtuell im Netz zu betrachten – und zu durchwandern – wie auch physisch in jeder gewünschten Form zu kaufen. Sie schenkte Skepz eine der kleinen Skulpturen, handbemalt und aus wertvollen Werkstoffen gefertigt. Sie fühlte sich sehr angenehm in der Hand an, und man konnte sich richtig darin vertiefen. Skepz wusste nicht, ob Jamaica besonders erfolgreich war, aber sie hatte zweifelsohne Talent, zumindest nach ihrer amateurhaften Einschätzung. Die abwesende zweite Ehefrau war Designberaterin in einem Einrichtungsstudio, in dem die Reichen und Schönen noch persönlich ihre Möbel und Geräte aussuchten, anstatt alles virtuell anpassen und anschließend liefern zu lassen. Zusammen hatten sie drei Kinder. Eine schöne kleine Familie, die ganz offensichtlich gut über die Runden kam. Sie gehörten ohne Zweifel zur Mittelschicht der neuen Erde.
»Was wollen Sie mit Ihrem Leben anfangen? Sie sind noch jung«, fragte Jamaica, nachdem sie über sich erzählt hatte. Sebastian wirkte eher schweigsam, wenngleich nicht
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