Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
hatten wir sogar noch ziemlich viel davon. Und dann haben wir es verloren. Beziehungsweise es wurde uns systematisch abtrainiert.
Und natürlich habe ich auch dafür wieder ein Beispiel aus der Welt des Nah- und Fernverkehrs. In diesem Fall handelte es sich um eine ältere Dame und ein kleines Mädchen, die zusammen Straßenbahn fuhren.
»Guck mal, ein Radfahrer!«, rief das Mädchen und deutete nach draußen. Nun sind Radfahrer hier keine seltenere Spezies als anderswo, aber darum geht es nicht. »Wir gucken jetzt nicht nach Radfahrern«, wurde das Kind von der Großmutter streng zurechtgewiesen. »Wir fahren jetzt Straßenbahn!«
Na prima, dachte ich. Aber beschwer dich später nicht, wenn deine Enkelin in der Schule nicht lernen will, weil sie ihr Interesse an der Welt verloren hat. Vielleicht war die alte Dame ja Zen-Meisterin und vertrat die Ansicht: Wenn ich gehe, dann gehe ich, und wenn ich esse, dann esse ich. Allerdings fand ich nicht, dass sie wie eine Zen-Meisterin aussah. Vielmehr klang es nach dem klassischen: Tu dies nicht, tu das nicht. – Nein, jetzt nicht! Und so weiter. Bis das Über-Ich gewonnen und das Es untergebuttert hat.
Aber so leicht lässt sich das, was wir in Jahrmillionen gelernt haben und was unser Überleben gesichert hat, nicht totkriegen. Und so melden sich ständig sehr vernünftige, ursprüngliche Impulse bei uns.
Ein winzig kleines Beispiel: Manche Menschen machen, wenn ihnen unangenehme Gedanken oder Erinnerungen kommen, ein Geräusch. Das kann ein Schnalzen sein oder etwas Ähnliches. Sie tun es nur, wenn sie allein sind, und ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken. Die unangenehmen Gedanken sind dann erst einmal weg, und eigentlich könnte man sich jetzt denken: Mensch, feine Sache! Da hat mir mein Instinkt beziehungsweise mein Unbewusstes ein ganz tolles Instrument zur Verfügung gestellt, mit dem ich machen kann, dass es mir besser geht.
Stattdessen beschließen die Menschen, das sei doch wohl »nicht normal«, manchmal, wenn man allein ist, einfach vor sich hin zu schnalzen, zu summen oder was auch immer. Ich finde das schade. Und irgendwie auch ziemlich undankbar gegenüber den Gaben, mit denen wir ausgestattet sind.
Ich habe bereits erwähnt, dass eine Mutter ihr Kind als eine Art exotischer Pflanze ansehen sollte, als etwas also, das man nicht mit einer vorgefertigten Erwartung betrachtet, sondern mit Neugier darauf, wie es wachsen und sich entwickeln wird. Es ist sinnvoll, sich selbst gegenüber die gleiche Haltung einzunehmen. Impulsen – sofern sie nicht einen selbst oder andere schädigen – nachzugehen, anstatt sie als »nicht normal« zu etikettieren.
In der Psychotherapie versucht der Therapeut, dem Patienten wieder Zugang zu diesen abtrainierten Impulsen zu verschaffen. Dazu gehört auch, dass der Patient Zutrauen dazu bekommt, dass sein Unbewusstes beziehungsweise sein Instinkt dafür sorgen wird, dass die Themen auf den Tisch kommen, die wichtig sind, um ihn voranzubringen. Es ist also gar nicht nötig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was nun vielleicht weiterführt und was nicht.
Ein wichtiges Therapieziel ist, dass der Patient lernt, mit sich selbst liebevoll umzugehen, neugierig auf sich zu sein, zu beobachten, was er tut, und zu sagen: Aha, so ist das also bei mir. Spannend!
Vor allem Psychoanalytiker ermutigen Patienten ja dazu, alles auszusprechen, was ihnen in den Kopf kommt. Zumindest in der Therapie. Sie ermutigen nicht dazu, das in Gegenwart des Chefs zu tun, bei dem man sich noch Karrierechancen ausrechnet.
Sigmund Freud war der Meinung, dass Menschen nichts tun, was keinen Sinn hat. Wenn man das erst einmal begriffen hat, verbessert sich das Selbstwertgefühl nahezu automatisch, weil man merkt, dass diese Instinktgeschichte sich bemüht, dafür zu sorgen, dass man das Richtige tut. Auch wenn sie sich dabei manchmal etwas ungeschickt anstellt. Aber sie bemüht sich zumindest.
Gut, wird sich der Patient sagen, wenn man selbst also ganz durcheinander erzählen darf, muss ja zumindest der Therapeut eine Struktur haben. Viele Patienten fragen sich, ob der Therapeut sich denn überhaupt alles merken kann, was sie ihm erzählen. Und ob er es nicht vielleicht mit den Geschichten anderer Patienten durcheinanderbringt.
Menschen haben ein unterschiedlich gutes Gedächtnis. Das gilt für Menschen der verschiedensten Berufsgruppen. Vor vielen Jahren waren mein Mann und ich einmal mit einem befreundeten Ehepaar anlässlich eines
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