Da gewöhnze dich dran
verstanden haben musste, lag wohl daran, dass Rudi sie ihr mit einer formvollendeten Verbeugung hinhielt, den Blick auf die Fußspitzen gerichtet, und dabei, leicht näselnd, aber dennoch deutlich «Küss die Hand, Frau Rektorin» gemurmelt hatte. Mit dieser Anrede traf er, ohne es zu wissen, den richtigen Ton: Lisbeths Vater war Lehrer, er war sogar Schuldirektor, was ihn einerseits zum Zigarrerauchen prädestinierte und andererseits seiner Frau zu genau dem Ansehen verhalf, das Rudi ihr in seiner Begrüßung zugestand und – das war sein Glück – das sie sich tief in ihrem Herzen in den vergangenen zwanzig Jahren, seit Lisbeth auf der Welt war, sehnlichst wünschte, denn sie fühlte sich als Hausfrau und Mutter ihrem Gatten gegenüber stets zurückgesetzt, obwohl sie sich im Alltag weit mehr abplagte als er und obwohl sie, wenn man einmal objektiv war, sogar intelligenter war als er, was sie jedoch nicht zeigen durfte, um ihn nicht zu brüskieren.
Obwohl der Bewerber einfacher Bergmann und kein Studierter war, fanden Lisbeths Eltern also Gefallen an Rudolf Schmidtchen, dessen Namen nicht etwa eine Koseform ist, sondern tatsächlich so lautet, was damals besonders gut zu ihm passte, denn er war ein schlaksiger Jüngling mit spitzbübischem Gesicht, der in seiner Freizeit eine Schiebermütze aus Tweed trug, die er sich über vier Monate von seinem Lehrgeld zusammengespart hatte und die ihm das Charisma eines kecken Berliner Gassenjungen verlieh.
Die Befürchtungen, welche Lisbeths Freundinnen zu Beginn der Verbindung geäußert hatten, erwiesen sich allesamt als unbegründet. Rudi, so erzählte mir Lisbeth, während ihre Sammelbüchse vor uns auf dem Wohnzimmertisch stand und sie an ihrem kalt gewordenen Tee nippte, habe ihr jeden Wunsch, nun ja, nicht von den Augen, aber immerhin von den Lippen abgelesen, war stets rechtschaffen und reinlich, habe niemals großartig Schmutz gemacht, selbst dann nicht, wenn er von der Schicht nach Hause kam, und habe ihr auch sonst nie Kummer bereitet, sei keinen fremden Frauen nachgestiegen und habe nur einmal im Monat freitags einen über den Durst getrunken, wenn Kegelabend war – im Gegensatz zu den Gatten ihrer Jugendfreundinnen, die sich im Haus nicht zu benehmen wussten, ihre Kinder verdroschen und fremden Frauen verfielen. Zudem sei er nicht umgekommen, was sie ihm ebenfalls hoch anrechne, denn das Dasein als Witwe, das sie sich trotz seiner Hartnäckigkeit, am Leben zu bleiben, immer wieder ausgemalt habe, sei kein rosiges, das habe sie bei ihrer Großmutter erleben dürfen, nachdem ihr Großvater im Krieg verstorben war. Nächstes Jahr sei nun Goldene Hochzeit und ich natürlich herzlich eingeladen.
Ich treffe Björn in Rüttenscheid, er steht am Straßenrand, und ich erkenne ihn sofort, als ich aus der U-Bahn komme. Ich habe ein leichtes Grinsen auf den Lippen, denn auf der Fahrt vom Hauptbahnhof zum Rüttenscheider Stern haben sich zwei Mädchen unterhalten: «Voll krass heute in Hauswirtschaft. Da mussten wir ein Ei aufmachen und das Innendrin da raus», sagte das eine, und das andere erwiderte: «Hast du noch nie ein Ei aufgeschlagen, oder was?» – «Nä, meine Mudda kocht nicht so kompliziert.»
Björn hat die Hände in den Hosentaschen und kickt einen Stein vor sich her. Er sieht genauso aus wie auf dem Foto: braune, etwas lichte Haare und eine Nase, die ein bisschen zu groß ist.
«Hi», sage ich. «Wir sind verabredet.»
«Dann bin ich Björn», sagt er und gibt mir die Hand.
«Und ich Nessy.»
«Hattest du eine gute Fahrt?», fragt er.
Ich erzähle ihm von den Chicks in der Bahn.
«Du bist lustig», sagt er.
Ich werde rot.
«Jetzt werd nicht gleich rot», neckt er.
Ich werde noch roter.
Er lacht. «Du machst nicht gerne das, was ein Mann sagt, mmh?» Er stupst mich mit seinem Ellbogen in die Seite. «Ist schon okay, ich finde das süß.»
«Frauen, die süß sind, sind wie Männer, die knuffig sind», sage ich.
«Ich kenne einen netten Laden hier die Straße rauf, nichts Besonderes, aber man kann dort gut sitzen. Wollen wir hingehen?»
Ich bejahe, und wir gehen zu dem kleinen Bistro, einem Ladenlokal mit Spitzengardinen und großer Theke, hinter der Holztafeln mit der Tageskarte hängen.
«Schon mal in Essen gewesen?», fragt Björn, als er mir aus der Jacke hilft und sie an die Garderobe neben unserem Tisch hängt.
«Noch nie», sage ich.
«Die Stadt klingt nicht besonders sexy, aber sie ist nett. Vor allem im Süden, hier in
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